Freitag, 30. Oktober 2015

Die kinderfeindliche Gesellschaft: Reklame

Schlimm genug, daß die ganze Stadt damit zugeklebt wird - überall, wo das Auge hinfällt. Wenn Werbung nicht lügen würde, würde sie nicht gebraucht. Ein ganzer Industriezweig ist damit beschäftigt, diese Lügen zu erfinden: Schönheit kommt von innen, weshalb die beworbenen Pillen eingenommen werden sollen; allerdings muß sie dann doch mittels Schminke von außen hergestellt werden (wohl wenn die Pillen nichts gewirkt haben). Frauen, die kaufen, was die Industrie will, sind "etwas Besonderes"; sie tun sich "etwas Gutes". Männer sind kernige Draufgänger und Abenteurer, wenn sie sich für das einsam durch die schönste Naturlandschaft brausende Auto entscheiden; oder für den leistungsstarken (nicht: bequemen!) Akkuschrauber. Tolle Geräte für die Küche: 3 Funktionen in einem - allerdings ohne den aufwendigen Abwasch oder den Platz (also: Rohstoffe) verschwendenden Gebrauch der Spülmaschine zu erwähnen. Wer das beworbene Getränk konsumiert, ist cool, gehört dazu - zu dem blicken alle auf. Der Verzehr einer schnöden Tiefkühlpizza versetzt einen während des Essens zum Italiener, Operngenuss inclusive. Nicht zu reden von den vielen Dingen, die angeblich einen wertvollen Beitrag zu unserer Ernährung, sprich: Gesundheit, leisten; darunter befinden sich sogar Bonbons.

Das Fernsehen nimmt bei diesem Thema, abgesehen von der Verbreitung solcher Täuschungsmanöver, eine weitere unrühmliche Rolle ein: Sogenannte Verbrauchermagazine haben sich zwar der Aufklärung verschrieben, doch zeigen nicht wenige Beiträge, daß die Grenze zwischen Information und Werbung mitunter recht fließend ist. So werden etwa für Testberichte bestimmte Produkte ausgewählt (und alle anderen finden keine Erwähnung); ebenso ist der Stil mancher Berichte fast schon als marktschreierisch zu bezeichnen. Schließlich wird einem über die Moderatorinnen ein einziges, scheinbar alternativloses Frauenbild vorgehalten: Hohe Hacken, tiefer Ausschnitt, roter Mund. Auch das eine Form von Werbung, besser: Propaganda.

Und dann so manches Regionalmagazin der dritten Fernsehprogramme: Die Moderatoren moderieren nicht, sondern sie betätigen sich als Animateure. Ihr Grinsen entspricht dem des Kasperletheaters: Liebe Kinder! Wenn sie einen Bericht ankündigen, setzen sie eine lieb-Kind-Mine auf. Statt einer sachlichen Kurzeinführung verkünden sie, was die Zuschauerin zu fühlen hat. Dann der angekündigte Beitrag: mit Sicherheit ist auch der mit säuselnder Reklamestimme unterlegt. Am Ende wieder die Moderatorin, mit der entsprechenden Grimasse im Gesicht: Ist es nicht schön, lieber Zuschauer, daß wir es zusammen gerade so schön kuschelig hatten? Wir sehen uns morgen wieder.

Nein, möchte ich brüllen: Du wirst mich auch morgen nicht sehen (können)!

Diese Moderatoren sind vermutlich inzwischen alle mit der Fernsehwerbung aufgewachsen; haben sie mit der Muttermilch eingesogen, wie es scheint. Auf allen Kanälen, egal ob Werbung oder Magazin: die durchgängige Aufforderung, für sich selbst gut und richtig zu finden, was andere einem vorgeben, anpreisen, vorzeigen. Der als mündig angesprochene Verbraucher bekommt für seine angeblich zu treffenden Entscheidungen die passenden Kriterien aufgeschwatzt. Ja, richtig - mündig, aufgeklärt, wollen wir ja alle sein!

Werbung. Werbesprüche schrauben sich in die Hirne der Kleinsten. Wenn wir sie nicht davor schützen. (Wie macht man das überhaupt?) Spätestens ab der Grundschulzeit geht das nicht mehr. Manche Mitschüler sitzen zuhause bereits vor dem Fernsehgerät, oft auch schon im Kindergartenalter; das, was ihnen zuvor Reklamesprecher eingängig angepriesen haben, klingt aus ihrem Mund wie Expertenwissen. Wer nicht fernsieht, erhält die Reklame, während er lesen lernt: eifrig versuchen ABC-Schüler, alles zu entziffern, was ihnen unter die Augen kommt. Damit bahnen sich die Botschaften der Werbeindustrie ihren Weg; Text und Illustration stellen dann Zusammenhänge her, wie sie oft gar nicht bestehen: das Auto in der ursprünglichen Landschaft (die wir bei uns längst plattgemacht und zugemüllt haben); die glücklichen Kühe auf der Weide (während die meisten Tiere ein elendes Leben bei Kunstlicht in engen Boxen im Stall verbringen); Fleisch sei "ein Stück Lebenskraft", so die Botschaft - doch das so beworbene Fleisch ist voller Medikamente und Streßhormone. Die Beispiele ließen sich unendlich fortsetzen; von den stereotypen, oft sexualisierenden Frauenbildern gar nicht zu reden.

Eltern können jetzt nur versuchen, zu erklären: daß Werbung lügt (nicht unbedingt direkt, aber mindestens durch Auslassung - für kleinere Kinder schon zu kompliziert); daß andere Produkte genauso gut sind wie das eine, als "das beste von allen" titulierte; daß "billig" nicht gleich "gut" bedeutet, aber auch "exklusiv" hierfür nichts bedeuet; daß es tatsächlich Dinge gibt, die man nicht braucht; kurz, daß man einfach nicht glauben darf, was die Werbung von sich gibt. Und daß Frauen zwar auf Werbeplakaten halbnackt sein dürfen, dieses aber noch lange kein Grund ist, in aller Öffentlichkeit in Unterwäsche herumzulaufen. Die Reklamemacher haben nur das Ziel, ihr Produkt "an den Mann zu bringen"; vor allem dann, wenn es nur mittelmäßig gut oder sogar von schlechter Qualität ist, aber auch, um sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen, sie möglichst auszuschalten. Das sind genau die Werte, die wir unseren Kindern angeblich nicht vermitteln wollen!

Wir leben also in einer Gesellschaft, in der es Bereiche gibt, vor denen wir unsere Kinder schützen müssen (die Werbung ist nur einer davon - der Verkehr ist weit naheliegender, aber auch leider längst für wichtiger befunden als unsere Kinder). Wir leben in einer Gesellschaft, die es erforderlich macht, unseren Kindern frühzeitig beizubringen, sich von Teilen dieser Gesellschaft zu distanzieren, damit sie keinen Schaden erleiden. Wohlgemerkt, durch Menschen.

Die Werbetreibenden haben sich wohl schon lange von uns distanziert, denn sonst könnten sie ihr unanständiges Geschäft nicht betreiben. So wie jeder Mensch, der die negativen Folgen seines Handelns einfach ausblendet, sind sie ebenso von sich selbst distanziert, man könnte auch sagen: entfremdet.

Unsere Kinder sollen also lernen, einen Teil dieser Gesellschaft, in der sie aufwachsen, als nicht vertrauenswürdig zu begreifen. Aber dieser Teil ist nicht einmal gut abgegrenzt; er durchzieht den öffentlichen Raum (Reklametafeln, vor allem an Haltestellen des ÖPNV), findet sich in zuhause herumliegenden Zeitungen und Zeitschriften, und bahnt sich seinen Weg in Wohn- und Kinderzimmer mittels TV-Geräten und Computern. Wie man hört, stellen Unternehmen den finanziell chronisch klammen Schulen bereits Unterrichtsmaterial zur Verfügung, das Firmenlogo inklusive.

Kinder können sich von der Welt, in der sie leben, nicht einfach distanzieren. Einfach gesagt: Was da ist, was es gibt, was vor ihrer Nase liegt, womit sie konfrontiert werden, wird völlig zwangsläufig zum Gegenstand der Beschäftigung. Was da ist, muß auch richtig sein, zumindest wenn es von Menschen stammt, mit denen man lebt. In eine Welt hineinzuwachsen, in der so manches nicht richtig ist, ist ein absurder Gedanke. Kinder können den nicht fassen. Erwachsene sollten ihren Schutzwall der Rationalisierung dringend einmal ablegen, damit sie (wieder) merken, daß eine solche Welt für niemanden taugt.

Kinder bringen Erwachsenen eine Menge Vertrauen entgegen. Das müssen sie auch, denn nur von den Menschen vorangehender Generationen kann man lernen, wie es geht: zu leben. Was Erwachsene als gut bewerten, können Kinder nicht einfach als schlecht ansehen. Sie können überhaupt erst ab einem bestimmten Alter begreifen, was eine Lüge ist; und, daß sie von einem erwachsenen Menschen tatsächlich verarscht, manipuliert, angelogen werden. Egal ob Eltern oder Anpreiser.

Niemand möchte als jemand gelten, der andere Menschen für die eigenen Zwecke manipuliert. Jeder Mensch möchte sich selbst als anständig ansehen. Und niemand möchte manipuliert und übervorteilt werden. Doch Reklame dient nicht der Information; sie dient nicht der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern der Erzeugung neuer Bedürfnisse. Wo sich selbst Psychologen in den Dienst dieser Manipulationsindustrie stellen, ist die Gesellschaft wahrlich auf den Hund gekommen.

Es ist für jeden Menschen ein Schock zu merken, daß man von jemandem angelogen wurde, dem man vertraut hat. Auch für uns Erwachsene ist es eine Zumutung, in einer Gesellschaft zu leben, in der wir jederzeit auf der Hut sein müssen; daß wir keinen Konsens darüber haben, daß wenigstens Kinder nicht alles, was von anderen Menschen kommt, in Frage stellen müssen, ist ein richtig übles Armutszeugnis.

(Übrigens: im Netz wird das Thema lügende Kinder durchweg als Problem gesehen, während das Belügen von Kindern, so es überhaupt auftaucht, fast ausschließlich gerechtfertigt wird. Auch eine Art Armutszeugnis. Zur Ergänzung: https://www.sein.de/eltern-luegen/

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