Mittwoch, 11. Dezember 2013

Lärm oder Die akustische Vermüllung des öffentlichen Raumes

Weiß noch jemand, was "Stille" ist? Die meisten Großstädter werden wohl kaum noch Gelegenheit haben, Stille zu erfahren - außer vielleicht mitten in der Nacht, im Hause, bei geschlossenem Fenster. Selbst wenn der Verkehr tatsächlich einmal eine Zeitlang "still" steht, gibt die Fußgängerampel mit jeder Grünphase einen Pfeifton von sich. Wenn nicht, irgendwo ist immer ein Grundrauschen - oder die Güterzüge in der Ferne, die mit kreischenden Bremsen zum Stehen kommen und bei Nacht besonders gut zu hören sind.
Aber auch, wenn man "raus in die Natur" fährt, findet man selten Abstand zu Zivilisationsgeräuschen; wo die Straße durch den Wald nicht mehr zu hören ist (selten genug), sind es Hubschrauber und Flugzeuge immer noch.

Lärm macht krank. Das wissen besonders diejenigen unter uns, die ihm besonders stark ausgesetzt sind, weil sie z.B. an Hauptverkehrsstraßen leben oder in der Einflugschneise eines Flughafens. Die Fernsehnachrichten informieren regelmäßig über den Zusammenhang zwischen Lärmimmissionen und den gesundheitlichen Folgen. Sieht also so aus, als wüßte jeder über diese Problematik gut Bescheid.

Und doch: mein Eindruck ist, daß es abgesehen von den unmittelbar Betroffenen niemanden zu kümmern scheint. Natürlich gibt es Immissionsgrenzwerte, etwa für Flugplätze; doch schon für Straßenlärm gibt es sie nur für neu zu bauende Straßen bzw. bei gravierenden Änderungen an bestehenden, etwa dem Hinzufügen einer weiteren Spur. Auch für Eisenbahnlärm gibt es Grenzwerte, doch darauf wäre ich nach eigener Erfahrung nicht gekommen - die Bahnstrecke, die am Haus von Bekannten vorbeiläuft, ist eindeutig zu laut. Für eine Verschärfung solcher Grenzwerte zu sorgen, ist für Bürgerinitiativen mit harter Arbeit verbunden, wo es überhaupt gelingt (bekanntes Beispiel: Mittelrheintal).

Bis vor einiger Zeit war es Mode, aufs Land zu ziehen - dort war es sauberer als in der Stadt, und es galt als ruhiger. Doch weil oft genug die Infrastruktur zu wünschen übrig ließ, fuhr man dann, selbstverständlich, mit dem Auto in die Stadt. Die Menschen, die an den Haupt- und Einfallstraßen wohnen, hatten das ebenso selbstverständlich hinzunehmen - mehr Verkehr, mehr Lärm, von den Abgasen ganz zu schweigen.
Der öffentliche Nahverkehr ist dankenswerterweise inzwischen vielerorts ausgebaut, die Taktzeiten von Bus und Bahn sind erhöht worden. Dennoch hat der Autoverkehr nicht ab-, sondern zugenommen (der öffentliche Verkehr übrigens auch). Dazu kommt die gestiegene Lärmbelästigung durch den LKW-Verkehr: Jeder Einkaufsmarkt bietet heutzutage alles an, was an allen möglichen Ecken nicht nur in Deutschland, sondern weltweit produziert wird. (Und das Beispiel vom Joghurt, für dessen Herstellung tausende Kilometer Autobahn in Deutschland durchfahren werden, kennen wir alle.)

Egal, wie man es bewertet oder welche (guten oder schlechten) Gründe der Einzelne jeweils für sein Verhalten hat: Jeder, der im heimischen Supermarkt zu Produkten greift, die ganz woanders produziert wurden, erhöht den durch Lärm (und schlechte Luft) verursachten Streß der Anwohner von Haupt-verkehrsstraßen. Und natürlich jeder, der überhaupt das Auto zum Einkaufen benutzt. Jeder, der das Flugzeug nutzt, ob für Urlaubs- oder Geschäftsreise, verhält sich (unabhängig davon, ob er auch anders könnte) seinen lärmgeplagten Mitmenschen gegenüber ignorant und in diesem Sinne asozial.

Eine Infrastruktur, die sich inzwischen über die ganze Welt erstreckt, läßt sich nicht einfach ändern; unabhängig davon, was der Einzelne über sein Verhalten verbessern kann, ist vor allem die Politik gefragt. Doch in diesem Rahmen beschränkt sich der Schutz vor Lärm vor allem auf dessen Bekämpfung mittels Schallschutzmaßnahmen - Schallschutzfenster, Lärmschutzwände -, während die Ursachen kräftig vermehrt werden. Zu nennen wäre da etwa die dritte Startbahn des Frankfurter Flughafens, der Bau von immer mehr Flughäfen in der Provinz (zum Glück für die betroffenen Anwohner selten profitabel), sog. Freihandels-abkommen, die nur dafür sorgen, daß wir demnächst genau solche Waren, die wir bereits selbst in übermäßigen Variationen herstellen, zusätzlich noch aus tausenden Kilometern Entfernung heranschaffen (und umgekehrt).

Es gibt viele weitere Lärmquellen: Rummelplätze etwa mit ihren Verkaufsständen, Glücksspielbuden und Fahrgeschäften, aber auch öffentliche Feste auf der Straße und in Fußgängerzonen. Überall muß, wie unter Zwang, rhythmisches Gestampfe aus den Lautsprechern quellen - in einer Lautstärke, daß man sich nur noch brüllend verständigen kann; von den Vibrationen, die den eigenen Körper innerlich z.T. unangenehm in Schwingung versetzen, ganz zu schweigen. Jedes Kinderkarussell auf dem Weihnachtsmarkt plärrt "Musik" in einer Lautstärke, daß Kinderohren dabei garantiert zu Schaden kommen. (Eine von 2003-2006 durchgeführte Studie hatte zum Ergebnis, daß bereits jedes achte Kind im Alter von 8-14 Jahren eine auffällige Minderung der Hörfähigkeit aufweist - http://www.umweltbundesamt.de/presse/presseinformationen/laerm-belastung-faengt-im-kindesalter-an)

Schützen wir unsere Kinder davor? Mitnichten!

Weiter geht es beim Einkaufen im Supermarkt: leises bis mittellautes Radiogedudel. Nicht gehörschädigend, aber ganz sicher störend für jeden Versuch zu überlegen, was man möglicherweise beim Schreiben des Einkaufszettels vergessen hat. Der Nachbar, der sein Bedürfnis nach frischer Luft mit dem Wunsch verknüpft, Musik zu hören; nicht immer zu laut, aber garantiert aufmerksamkeitserzwingend. Überhaupt müssen wie unter Zwang immer mehr Tätigkeiten mit elektrischer Unterstützung durchgeführt werden; ob das Laubbläser und -sauger sind, die auch privat immer mehr den Besen ersetzen, oder ob jeder Kleingärtner den Astschnitt selbst mittels Häckselmaschine zerkleinern "muß": Nicht nur Energie wird verschwendet, sondern der ganzen Nachbarschaft eine Menge Lärm selbstverständlich zugemutet. Kindergartenfeste hatten mal etwas mit Spielen zu tun, oder auch mit gemeinsamem Singen. Inzwischen fragt man sich, wie ganze Generationen ohne akustische Verstärkungsmaschinerie aufwachsen konnten! Auch hier werden Lautsprecher eingesetzt, in einer Lautstärke, die die Nachbarschaft im 200m Umkreis ungefragt dranteilnehmen läßt - auch dies für Kinderohren ganz sicher zu laut.

Es ist, als wolle sich eine ganze Nation, ja vielleicht die ganze Zivilisation, in permanenter Betäubung halten. Stille, als Voraussetzung dafür, zu sich zu kommen, scheint bedrohlich geworden zu sein. Im Umkehrschluß muß man wohl feststellen: Die soziale Welt, in der wir leben, ist offensichtlich alles andere als schön. Es ist damit zu rechnen, daß sie für immer mehr Menschen ohne Betäubung nicht mal mehr auszuhalten ist.

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