Weiß noch jemand, was "Stille"
ist? Die meisten Großstädter werden wohl kaum noch Gelegenheit
haben, Stille zu erfahren - außer vielleicht mitten in der Nacht, im
Hause, bei geschlossenem Fenster. Selbst wenn der Verkehr tatsächlich
einmal eine Zeitlang "still" steht, gibt die Fußgängerampel
mit jeder Grünphase einen Pfeifton von sich. Wenn nicht, irgendwo
ist immer ein Grundrauschen - oder die Güterzüge in der Ferne, die
mit kreischenden Bremsen zum Stehen kommen und bei Nacht besonders
gut zu hören sind.
Aber auch, wenn man "raus in die
Natur" fährt, findet man selten Abstand zu
Zivilisationsgeräuschen; wo die Straße durch den Wald nicht mehr zu
hören ist (selten genug), sind es Hubschrauber und Flugzeuge immer
noch.
Lärm macht krank. Das wissen besonders
diejenigen unter uns, die ihm besonders stark ausgesetzt sind, weil
sie z.B. an Hauptverkehrsstraßen leben oder in der Einflugschneise
eines Flughafens. Die Fernsehnachrichten informieren regelmäßig
über den Zusammenhang zwischen Lärmimmissionen und den
gesundheitlichen Folgen. Sieht also so aus, als wüßte jeder über
diese Problematik gut Bescheid.
Und doch: mein Eindruck ist, daß es
abgesehen von den unmittelbar Betroffenen niemanden zu kümmern
scheint. Natürlich gibt es Immissionsgrenzwerte, etwa für
Flugplätze; doch schon für Straßenlärm gibt es sie nur für neu
zu bauende Straßen bzw. bei gravierenden Änderungen an bestehenden,
etwa dem Hinzufügen einer weiteren Spur. Auch für Eisenbahnlärm
gibt es Grenzwerte, doch darauf wäre ich nach eigener Erfahrung
nicht gekommen - die Bahnstrecke, die am Haus von Bekannten
vorbeiläuft, ist eindeutig zu laut. Für eine Verschärfung solcher
Grenzwerte zu sorgen, ist für Bürgerinitiativen mit harter Arbeit
verbunden, wo es überhaupt gelingt (bekanntes Beispiel:
Mittelrheintal).
Bis vor einiger Zeit war es Mode, aufs
Land zu ziehen - dort war es sauberer als in der Stadt, und es galt
als ruhiger. Doch weil oft genug die Infrastruktur zu wünschen übrig
ließ, fuhr man dann, selbstverständlich, mit dem Auto in die Stadt.
Die Menschen, die an den Haupt- und Einfallstraßen wohnen, hatten
das ebenso selbstverständlich hinzunehmen - mehr Verkehr, mehr Lärm,
von den Abgasen ganz zu schweigen.
Der öffentliche Nahverkehr ist
dankenswerterweise inzwischen vielerorts ausgebaut, die Taktzeiten
von Bus und Bahn sind erhöht worden. Dennoch hat der Autoverkehr
nicht ab-, sondern zugenommen (der öffentliche Verkehr übrigens
auch). Dazu kommt die gestiegene Lärmbelästigung durch den
LKW-Verkehr: Jeder Einkaufsmarkt bietet heutzutage alles an, was an
allen möglichen Ecken nicht nur in Deutschland, sondern weltweit
produziert wird. (Und das Beispiel vom Joghurt, für dessen
Herstellung tausende Kilometer Autobahn in Deutschland durchfahren
werden, kennen wir alle.)
Egal, wie man es bewertet oder welche
(guten oder schlechten) Gründe der Einzelne jeweils für sein
Verhalten hat: Jeder, der im heimischen Supermarkt zu Produkten
greift, die ganz woanders produziert wurden, erhöht den durch Lärm
(und schlechte Luft) verursachten Streß der Anwohner von
Haupt-verkehrsstraßen. Und natürlich jeder, der überhaupt das Auto
zum Einkaufen benutzt. Jeder, der das Flugzeug nutzt, ob für
Urlaubs- oder Geschäftsreise, verhält sich (unabhängig davon, ob
er auch anders könnte) seinen lärmgeplagten Mitmenschen gegenüber
ignorant und in diesem Sinne asozial.
Eine Infrastruktur, die sich inzwischen
über die ganze Welt erstreckt, läßt sich nicht einfach ändern;
unabhängig davon, was der Einzelne über sein Verhalten verbessern
kann, ist vor allem die Politik gefragt. Doch in diesem Rahmen
beschränkt sich der Schutz vor Lärm vor allem auf dessen Bekämpfung
mittels Schallschutzmaßnahmen - Schallschutzfenster, Lärmschutzwände
-, während die Ursachen kräftig vermehrt werden. Zu nennen wäre da
etwa die dritte Startbahn des Frankfurter Flughafens, der Bau von
immer mehr Flughäfen in der Provinz (zum Glück für die betroffenen
Anwohner selten profitabel), sog. Freihandels-abkommen, die nur dafür
sorgen, daß wir demnächst genau solche Waren, die wir bereits
selbst in übermäßigen Variationen herstellen, zusätzlich noch aus
tausenden Kilometern Entfernung heranschaffen (und umgekehrt).
Es gibt viele weitere Lärmquellen:
Rummelplätze etwa mit ihren Verkaufsständen, Glücksspielbuden und
Fahrgeschäften, aber auch öffentliche Feste auf der Straße und in Fußgängerzonen. Überall muß, wie unter Zwang, rhythmisches
Gestampfe aus den Lautsprechern quellen - in einer Lautstärke, daß
man sich nur noch brüllend verständigen kann; von den Vibrationen,
die den eigenen Körper innerlich z.T. unangenehm in Schwingung
versetzen, ganz zu schweigen. Jedes Kinderkarussell auf dem
Weihnachtsmarkt plärrt "Musik" in einer Lautstärke, daß
Kinderohren dabei garantiert zu Schaden kommen. (Eine von 2003-2006
durchgeführte Studie hatte zum Ergebnis, daß bereits jedes achte
Kind im Alter von 8-14 Jahren eine auffällige Minderung der
Hörfähigkeit aufweist - http://www.umweltbundesamt.de/presse/presseinformationen/laerm-belastung-faengt-im-kindesalter-an)
Schützen wir unsere Kinder davor?
Mitnichten!
Weiter geht es beim Einkaufen im
Supermarkt: leises bis mittellautes Radiogedudel. Nicht
gehörschädigend, aber ganz sicher störend für jeden Versuch zu
überlegen, was man möglicherweise beim Schreiben des
Einkaufszettels vergessen hat. Der Nachbar, der sein Bedürfnis nach
frischer Luft mit dem Wunsch verknüpft, Musik zu hören; nicht immer
zu laut, aber garantiert aufmerksamkeitserzwingend. Überhaupt müssen
wie unter Zwang immer mehr Tätigkeiten mit elektrischer
Unterstützung durchgeführt werden; ob das Laubbläser und -sauger
sind, die auch privat immer mehr den Besen ersetzen, oder ob jeder
Kleingärtner den Astschnitt selbst mittels Häckselmaschine
zerkleinern "muß": Nicht nur Energie wird verschwendet,
sondern der ganzen Nachbarschaft eine Menge Lärm selbstverständlich
zugemutet. Kindergartenfeste hatten mal etwas mit Spielen zu tun,
oder auch mit gemeinsamem Singen. Inzwischen fragt man sich, wie
ganze Generationen ohne akustische Verstärkungsmaschinerie
aufwachsen konnten! Auch hier werden Lautsprecher eingesetzt, in
einer Lautstärke, die die Nachbarschaft im 200m Umkreis ungefragt
dranteilnehmen läßt - auch dies für Kinderohren ganz sicher zu
laut.
Es ist, als wolle sich eine ganze
Nation, ja vielleicht die ganze Zivilisation, in permanenter
Betäubung halten. Stille, als Voraussetzung dafür, zu sich zu kommen, scheint bedrohlich geworden zu sein. Im Umkehrschluß muß man wohl feststellen: Die
soziale Welt, in der wir leben, ist offensichtlich alles andere als
schön. Es ist damit zu rechnen, daß sie für immer mehr Menschen
ohne Betäubung nicht mal mehr auszuhalten ist.
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