Mittwoch, 27. November 2013

Müssen Kinder teilen lernen?

Kinder, so heißt es im allgemeinen, müßten zur Rücksichtnahme erzogen werden. Dahinter steht die Auffassung, daß Kinder soz. von Natur aus egoistisch seien. Würde man sie nicht dazu anhalten mit Anderen zu teilen, an Andere überhaupt zu denken, würden sie den ganzen Tag tun, was sie wollen. Schlimmer noch, sie würden nur tun, was ihnen Spaß macht! (Was jedenfalls, so die implizite Logik, nur sozialfeindlich sein kann!) Insofern viele Erwachsene (noch) denken, daß Spaß haben und spielen für Kinder irgendwie dazugehört, heißt es spätestens mit Eintritt in die Schule: Jetzt beginnt der "Ernst des Lebens". Was so viel heißen soll wie: Lernen ist eben, was man tun muß, ob es Spaß macht oder nicht. Und es heißt auch, daß man sich gefälligst nicht selbst auszusuchen hat, was man wann wie lernt, oder auch nicht lernt. Lernen gilt offensichtlich nur dann als wertvoll, wenn das Thema und dessen Form von jemand anderem vorgegeben wird.
Man sollte sich klarmachen, daß andere Arten des Lernens mindestens in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr vorkommen, denn man hat, gerade auch mit der Verkürzung der gymnasialen Oberstufe, den Kindern und Jugendlichen jeden Raum dafür genommen. In dieser Wahrnehmung werden wir Erwachsenen zu denjenigen, die Kindern etwas beibringen - und zwar gezielt und organisiert.

Müssen Kinder teilen lernen? Zur Erörterung dieser Frage möchte ich mich auf einen kurzen Abschnitt aus einem Buch des Schweizer Psychoanalytikers Arno Gruen beziehen (alle Zitate aus Arno Gruen: Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit. München 1997, S. 91/92):

"Eibl-Eibesfeldt, Verhaltensforscher am Max-Planck-Insitut für Völkerkunde, beschreibt folgende Situation zwischen einer Eipo-Mutter in West-Neuguinea und ihren beiden kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Der Junge ißt ein Tarostück, das Mädchen greift danach, woraufhin beide zu schreien anfangen. Die Mutter kommt herbei, und beide Kinder lächeln sie an. Der Junge reicht ihr von sich aus das Tarostück, sie bricht es in zwei Teile und gibt beide dem Jungen zurück. Er bemerkt erstaunt, daß er jetzt zwei Stücke hat, und nachdem er beide einen Moment lang betrachtet hat, gibt er eines seiner Schwester."

Die Ausgangssituation, daß ein Kind etwas (auch) haben will, was das andere hat, und sich daraus ein Konflikt ergibt, kennen wir zur Genüge. Was wir schon nicht mehr kennen ist, daß die herbeikommende Mutter angelächelt wird; daß also ihr Kommen Ruhe in die Situation bringt. Das bedeutet, sie hat das Vertrauen beider Kinder, Probleme auf für diese angemessene Weise zu lösen. Aus unserer Gesellschaft kennen wir, daß in einer derartigen Situation beide Kinder an der Mutter zerren, um sie im jeweils eigenen Sinne zu beeinflussen. Offensichtlich machen Kinder früh die Erfahrung, daß ihnen nicht zugehört wird, wenn sie nicht (unter Umständen massiv) auf sich aufmerksam machen; oder aber, sie erleben zu oft, daß sie es nicht schaffen, sich verständlich zu machen. Es drohen Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Dadurch werden Konflikte zu einem Kampf um die Macht - das Gezerre an der Mutter ist der Versuch, ihre Machtausübung für sich zu gewinnen, an ihrer Macht zu partizipieren. Offenbar wird eine solche Situation von unseren Kindern als Konkurrenzsituation erlebt - so besteht der Druck, möglichst schnell den Erwachsenen davon zu überzeugen, daß man selbst derjenige ist, dem Unrecht geschieht, nicht der Andere. Die Situation wird also als ein Entweder-Oder erlebt; entweder bin ich im Recht, oder der Andere ist es. Tertium non datur.

Sehen wir, was Arno Gruen weiter sagt:
"Wie würden wir uns als Eltern in einer ähnlichen Situation verhalten? Kämen wir uns nicht vorbildlich vor, wenn wir das Stückchen Brot brechen und an die Kinder verteilen würden, um ihnen auf diese Weise das Teilen beizubringen? Wer von uns hätte das dem Kind überlassen? Wir trauen einem Kind von zwei oder drei Jahren gar nicht zu, daß es so etwas begreift oder sogar selbst tut. So handeln wir lieber entsprechend den Vorurteilen, die in unserer Gesellschaft herrschen, und schränken damit unsere Wirklichkeit ein. Und die derart verformte 'Wirklichkeit' der menschlichen 'Natur' wird dadurch permanent weitergegeben."

Wir müssen uns bewußt machen, daß unseren Handlungen in derartigen Situationen eine spezifische Deutung zugrundeliegt; diese könnte auch anders aussehen. Wir nehmen das normalerweise nicht wahr, weil wir ja reagieren müssen; wir sollten uns dafür aber mal Zeit nehmen. Es macht einen Unterschied, ob ich unterstelle, daß beide Kinder schreien, weil der Junge das Tarostück für sich behalten möchte, oder weil sie der Situation, in der sie sich befinden, einfach hilflos gegenüberstehen und also unsere Hilfe brauchen. Kinder im angesprochenen Alter wollen tun, was Erwachsene von ihnen erwarten; mit ihrer Handlung den Kindern gegenüber drücken Erwachsene diese Erwartungen aus, egal ob es sich um bewußte oder unbewußte handelt. Die Eipo-Mutter traut ihrem Kind zu, daß es das Problem selbst löst, und gibt ihm die dazu nötige Hilfe (das Durchbrechen des Taro-Stücks). Der Erwachsene, der anstelle der Kinder das Teilen übernimmt, bedeutet ihnen damit, daß er nicht erwartet hat, daß sie das Problem selbst lösen. Schlimmer noch, wenn er/sie diese Handlung mit folgenden (oder ähnlichen) Worten unterlegt: "Seht ihr, jetzt könnt ihr beide etwas haben." Damit unterstellt er/sie dem Kind auch noch Egoismus. Das Kind, das das Tarostück zuerst hatte, mag sich für dumm gehalten sehen oder auch für eigennützig bzw. geizig; in jedem Falle fühlt es sich gedemütigt. Es wird nicht gesehen! Statt dessen sieht die Erwachsene etwas in ihm, was es gar nicht ist. Auch dies ein Grund für das typische Zerren von Kindern - wer will schon so ein Gefühl des Verkanntwerdens, im Verein mit der Ohnmacht, dasselbe nicht einfach korrigieren zu können, erleben! Darüber hinaus bin ich mir völlig sicher, daß (und die meisten von uns Erwachsenen kennen das noch!) kein Mensch von anderen als selbstsüchtig angesehen werden möchte; so etwas tut einfach weh.

Arno Gruen spricht unsere Gefühle als Erwachsene an, wenn er sagt, wir kämen uns vorbildlich vor. Denn damit einher geht ja das Gefühl eines sozial angemessenen Handelns, im Grunde von Gehorsamkeit. "Seht, wie brav ich bin, daß ich für Euch die Sache regle!" Indem wir als Erwachsene das Teilen übernehmen, handeln wir also eigentlich als die Kinder, die wir doch nicht mehr sein sollten! Und damit fordern wir im Grunde von unseren Kindern auch noch Applaus.

Weil wir dem Vorurteil aufsitzen, daß wir Kindern ein Verhalten, das die Bedürfnisse von anderen berücksichtigt, erst beibringen müssen, übersehen wir ihre Möglichkeiten. Und weil wir nie genug Zeit haben, uns konflikthafte Situationen genauer anzusehen, händeln wir sie so, daß sich unsere Vorurteile bestätigen.

Noch eine Überlegung läßt sich hier anschließen: Kinder werden häufig mit materiellen Dingen zugeschüttet, um (bewußte oder unbewußte) Defizite in der Beziehung zu ihnen zu kompensieren; man hat zu wenig Zeit für sie, geht nicht richtig auf sie ein, reagiert aufgrund eigener Belastungen oft gereizt, oder aber will sich den ständigen Kampf um die Dinge, die angeblich alle anderen haben und die das Kind jetzt auch unbedingt braucht, wenigstens ab und zu ersparen. Wer aber zu oft Konsum statt Zuwendung erhält, wird davon kaum etwas abgeben können. Wie ungerecht, wenn ihm dann noch unterstellt wird, egoistisch zu sein! Denn das trifft die Sache gar nicht. Nur ist das wiederum für ein Kind nicht durchschaubar; es will an der an den Gegenstand geknüpften Zuneigung festhalten, weil es diese braucht. Der Erwachsene sieht unter Umständen nur, daß es nichts abgeben will, wo es doch so viel hat. Für das Kind bleibt eine Gefühlsverwirrung, die es nicht auflösen kann, es fühlt sich ungerecht behandelt; wenn sein Protest nichts nützt, kommt Beschämung hinzu. Und es weiß im Grunde nicht mehr, wie es den Erwartungen von Erwachsenen entsprechen soll, ohne sich selbst zu schaden. Es hat allerdings eine weitere Erwartung kennengelernt: egoistisch zu sein. Das war zwar nicht sein ursprüngliches Gefühl gewesen, aber bitte! Wenn es so weiterlernt, hat es das Vorurteil, wonach alle Menschen von Natur aus egoistisch seien, schnell verinnerlicht - sowie, natürlich, gelernt, daß es von anderen Menschen nichts für sich selbst zu erwarten hat, sondern selbst sehen muß, wo es bleibt; im Zweifelsfall gegen alle Anderen.

Vor allem Kinder im Vorschulalter haben noch keine adäquate Beschreibung für ihr Erleben konflikthafter Situationen, und ihre eigenen Handlungsmotive müssen ihnen auch erst nach und nach bewußt werden; es ist unsere Aufgabe als Erwachsene, ihnen die jeweils entsprechenden Worte zu geben sowie ihnen dabei zu helfen, sich selbst kennen zu lernen. Klagen wir nicht alle immer mehr über Menschen, die immer rücksichtsloser nur auf ihre eigenen Belange achten? Je weniger wir Kindern und ihren (Entwicklungs-)Bedürfnissen Raum und Zeit geben, desto mehr egoistische Menschen ziehen wir heran.

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