Kinder,
so heißt es im allgemeinen, müßten
zur Rücksichtnahme erzogen werden. Dahinter steht die
Auffassung, daß Kinder soz. von Natur aus egoistisch seien.
Würde man sie nicht dazu anhalten mit Anderen zu teilen, an Andere
überhaupt zu denken, würden sie den ganzen Tag tun, was sie wollen.
Schlimmer noch, sie würden nur tun, was ihnen Spaß macht! (Was
jedenfalls, so die implizite Logik, nur sozialfeindlich sein kann!)
Insofern viele Erwachsene (noch) denken, daß Spaß haben und spielen
für Kinder irgendwie dazugehört, heißt es spätestens mit Eintritt
in die Schule: Jetzt beginnt der "Ernst des Lebens". Was so
viel heißen soll wie: Lernen ist eben, was man tun muß, ob
es Spaß macht oder nicht. Und es heißt auch, daß man sich
gefälligst nicht selbst auszusuchen hat, was man wann wie lernt,
oder auch nicht lernt. Lernen gilt offensichtlich nur dann als
wertvoll, wenn das Thema und dessen Form von jemand anderem
vorgegeben wird.
Man
sollte sich klarmachen, daß andere Arten des Lernens mindestens in
der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr vorkommen, denn man hat,
gerade auch mit der Verkürzung der gymnasialen Oberstufe, den
Kindern und Jugendlichen jeden Raum dafür genommen. In dieser
Wahrnehmung werden wir Erwachsenen zu denjenigen, die Kindern etwas
beibringen - und zwar gezielt und organisiert.
Müssen
Kinder teilen lernen? Zur Erörterung dieser Frage möchte ich
mich auf einen kurzen Abschnitt aus einem Buch des Schweizer
Psychoanalytikers Arno Gruen beziehen (alle Zitate aus Arno Gruen:
Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der
Gleichgültigkeit. München 1997, S. 91/92):
"Eibl-Eibesfeldt,
Verhaltensforscher am Max-Planck-Insitut für Völkerkunde,
beschreibt folgende Situation zwischen einer Eipo-Mutter in
West-Neuguinea und ihren beiden kleinen Kindern, einem Jungen und
einem Mädchen. Der Junge ißt ein Tarostück, das Mädchen greift
danach, woraufhin beide zu schreien anfangen. Die Mutter kommt
herbei, und beide Kinder lächeln sie an. Der Junge reicht ihr von
sich aus das Tarostück, sie bricht es in zwei Teile und gibt beide
dem Jungen zurück. Er bemerkt erstaunt, daß er jetzt zwei Stücke
hat, und nachdem er beide einen Moment lang betrachtet hat, gibt er
eines seiner Schwester."
Die
Ausgangssituation, daß ein Kind etwas (auch) haben will, was das
andere hat, und sich daraus ein Konflikt ergibt, kennen wir zur
Genüge. Was wir schon nicht mehr kennen ist, daß die herbeikommende
Mutter angelächelt wird; daß also ihr Kommen Ruhe in die Situation
bringt. Das bedeutet, sie hat das Vertrauen beider Kinder, Probleme
auf für diese angemessene Weise zu lösen. Aus unserer Gesellschaft
kennen wir, daß in einer derartigen Situation beide Kinder an der
Mutter zerren, um sie im jeweils eigenen Sinne zu beeinflussen.
Offensichtlich machen Kinder früh die Erfahrung, daß ihnen nicht
zugehört wird, wenn sie nicht (unter Umständen massiv) auf sich
aufmerksam machen; oder aber, sie erleben zu oft, daß sie es nicht
schaffen, sich verständlich zu machen. Es drohen Gefühle von
Ohnmacht und Hilflosigkeit. Dadurch werden Konflikte zu einem Kampf
um die Macht - das Gezerre an der Mutter ist der Versuch, ihre
Machtausübung für sich zu gewinnen, an ihrer Macht zu
partizipieren. Offenbar wird eine solche Situation von unseren
Kindern als Konkurrenzsituation erlebt - so besteht der Druck,
möglichst schnell den Erwachsenen davon zu überzeugen, daß man
selbst derjenige ist, dem Unrecht geschieht, nicht der Andere. Die
Situation wird also als ein Entweder-Oder erlebt; entweder bin ich im
Recht, oder der Andere ist es. Tertium non datur.
Sehen
wir, was Arno Gruen weiter sagt:
"Wie
würden wir uns als Eltern in einer ähnlichen Situation verhalten?
Kämen wir uns nicht vorbildlich vor, wenn wir das Stückchen Brot
brechen und an die Kinder verteilen würden, um ihnen auf diese Weise
das Teilen beizubringen? Wer von uns hätte das dem Kind überlassen?
Wir trauen einem Kind von zwei oder drei Jahren gar nicht zu, daß es
so etwas begreift oder sogar selbst tut. So handeln wir lieber
entsprechend den Vorurteilen, die in unserer Gesellschaft herrschen,
und schränken damit unsere Wirklichkeit ein. Und die derart
verformte 'Wirklichkeit' der menschlichen 'Natur'
wird dadurch permanent weitergegeben."
Wir
müssen uns bewußt machen, daß unseren Handlungen in derartigen
Situationen eine spezifische Deutung zugrundeliegt; diese könnte
auch anders aussehen. Wir nehmen das normalerweise nicht wahr, weil
wir ja reagieren müssen; wir sollten uns dafür aber mal Zeit
nehmen. Es macht einen Unterschied, ob ich unterstelle, daß beide
Kinder schreien, weil der Junge das Tarostück für sich behalten
möchte, oder weil sie der Situation, in der sie sich befinden,
einfach hilflos gegenüberstehen und also unsere Hilfe brauchen.
Kinder im angesprochenen Alter wollen tun, was Erwachsene von ihnen
erwarten; mit ihrer Handlung den Kindern gegenüber drücken
Erwachsene diese Erwartungen aus, egal ob es sich um bewußte oder
unbewußte handelt. Die Eipo-Mutter traut ihrem Kind zu, daß es das
Problem selbst löst, und gibt ihm die dazu nötige Hilfe (das
Durchbrechen des Taro-Stücks). Der Erwachsene, der anstelle der
Kinder das Teilen übernimmt, bedeutet ihnen damit, daß er nicht
erwartet hat, daß sie das Problem selbst lösen. Schlimmer noch,
wenn er/sie diese Handlung mit folgenden (oder ähnlichen) Worten
unterlegt: "Seht ihr, jetzt könnt ihr beide etwas haben."
Damit unterstellt er/sie dem Kind auch noch Egoismus. Das Kind, das
das Tarostück zuerst hatte, mag sich für dumm gehalten sehen oder
auch für eigennützig bzw. geizig; in jedem Falle fühlt es sich
gedemütigt. Es wird nicht gesehen! Statt dessen sieht die Erwachsene
etwas in ihm, was es gar nicht ist. Auch dies ein Grund für das
typische Zerren von Kindern - wer will schon so ein Gefühl des
Verkanntwerdens, im Verein mit der Ohnmacht, dasselbe nicht einfach
korrigieren zu können, erleben! Darüber hinaus bin ich mir völlig
sicher, daß (und die meisten von uns Erwachsenen kennen das noch!)
kein Mensch von anderen als selbstsüchtig angesehen werden möchte;
so etwas tut einfach weh.
Arno
Gruen spricht unsere Gefühle als Erwachsene an, wenn er sagt, wir
kämen uns vorbildlich vor. Denn damit einher geht ja das Gefühl
eines sozial angemessenen Handelns, im Grunde von Gehorsamkeit.
"Seht, wie brav ich bin, daß ich für Euch die Sache regle!"
Indem wir als Erwachsene das Teilen übernehmen, handeln wir also
eigentlich als die Kinder, die wir doch nicht mehr sein sollten! Und
damit fordern wir im Grunde von unseren Kindern auch noch Applaus.
Weil
wir dem Vorurteil aufsitzen, daß wir Kindern ein Verhalten, das die
Bedürfnisse von anderen berücksichtigt, erst beibringen müssen,
übersehen wir ihre Möglichkeiten. Und weil wir nie genug Zeit
haben, uns konflikthafte Situationen genauer anzusehen, händeln wir
sie so, daß sich unsere Vorurteile bestätigen.
Noch
eine Überlegung läßt sich hier anschließen: Kinder werden häufig
mit materiellen Dingen zugeschüttet, um (bewußte oder unbewußte)
Defizite in der Beziehung zu ihnen zu kompensieren; man hat zu wenig
Zeit für sie, geht nicht richtig auf sie ein, reagiert aufgrund
eigener Belastungen oft gereizt, oder aber will sich den ständigen
Kampf um die Dinge, die angeblich alle anderen haben und die das Kind
jetzt auch unbedingt braucht, wenigstens ab und zu ersparen. Wer aber
zu oft Konsum statt Zuwendung erhält, wird davon kaum etwas abgeben
können. Wie ungerecht, wenn ihm dann noch unterstellt wird,
egoistisch zu sein! Denn das trifft die Sache gar nicht. Nur ist das
wiederum für ein Kind nicht durchschaubar; es will an der an den
Gegenstand geknüpften Zuneigung festhalten, weil es diese braucht.
Der Erwachsene sieht unter Umständen nur, daß es nichts abgeben
will, wo es doch so viel hat. Für das Kind bleibt eine
Gefühlsverwirrung, die es nicht auflösen kann, es fühlt sich
ungerecht behandelt; wenn sein Protest nichts nützt, kommt
Beschämung hinzu. Und es weiß im Grunde nicht mehr, wie es den
Erwartungen von Erwachsenen entsprechen soll, ohne sich selbst zu
schaden. Es hat allerdings eine weitere Erwartung kennengelernt:
egoistisch zu sein. Das war zwar nicht sein ursprüngliches Gefühl
gewesen, aber bitte! Wenn es so weiterlernt, hat es das Vorurteil,
wonach alle Menschen von Natur aus egoistisch seien, schnell
verinnerlicht - sowie, natürlich, gelernt, daß es von anderen
Menschen nichts für sich selbst zu erwarten hat, sondern selbst
sehen muß, wo es bleibt; im Zweifelsfall gegen alle Anderen.
Vor
allem Kinder im Vorschulalter haben noch keine adäquate Beschreibung
für ihr Erleben konflikthafter Situationen, und ihre eigenen
Handlungsmotive müssen ihnen auch erst nach und nach bewußt werden;
es ist unsere Aufgabe als Erwachsene, ihnen die jeweils
entsprechenden Worte zu geben sowie ihnen dabei zu helfen, sich
selbst kennen zu lernen. Klagen wir nicht alle immer mehr über
Menschen, die immer rücksichtsloser nur auf ihre eigenen Belange
achten? Je weniger wir Kindern und ihren (Entwicklungs-)Bedürfnissen
Raum und Zeit geben, desto mehr egoistische Menschen ziehen wir
heran.
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