Schlimm
genug, daß die ganze Stadt damit zugeklebt wird - überall, wo das
Auge hinfällt. Wenn Werbung nicht lügen würde, würde sie nicht
gebraucht. Ein ganzer Industriezweig ist damit beschäftigt, diese
Lügen zu erfinden: Schönheit kommt von innen, weshalb die
beworbenen Pillen eingenommen werden sollen; allerdings muß sie dann
doch mittels Schminke von außen hergestellt werden (wohl wenn die
Pillen nichts gewirkt haben). Frauen, die kaufen, was die Industrie
will, sind "etwas Besonderes"; sie tun sich "etwas
Gutes". Männer sind kernige Draufgänger und Abenteurer, wenn
sie sich für das einsam durch die schönste Naturlandschaft
brausende Auto entscheiden; oder für den leistungsstarken (nicht:
bequemen!) Akkuschrauber. Tolle Geräte für die Küche: 3 Funktionen
in einem - allerdings ohne den aufwendigen Abwasch oder den Platz
(also: Rohstoffe) verschwendenden Gebrauch der Spülmaschine zu
erwähnen. Wer das beworbene Getränk konsumiert, ist cool, gehört
dazu - zu dem blicken alle auf. Der Verzehr einer schnöden
Tiefkühlpizza versetzt einen während des Essens zum Italiener,
Operngenuss inclusive. Nicht zu reden von den vielen Dingen, die
angeblich einen wertvollen Beitrag zu unserer Ernährung, sprich:
Gesundheit, leisten; darunter befinden sich sogar Bonbons.
Das
Fernsehen nimmt bei diesem Thema, abgesehen von der Verbreitung
solcher Täuschungsmanöver, eine weitere unrühmliche Rolle ein:
Sogenannte Verbrauchermagazine haben sich zwar der Aufklärung
verschrieben, doch zeigen nicht wenige Beiträge, daß die Grenze
zwischen Information und Werbung mitunter recht fließend ist. So
werden etwa für Testberichte bestimmte Produkte ausgewählt (und
alle anderen finden keine Erwähnung); ebenso ist der Stil mancher
Berichte fast schon als marktschreierisch zu bezeichnen. Schließlich
wird einem über die Moderatorinnen ein einziges, scheinbar
alternativloses Frauenbild vorgehalten: Hohe Hacken, tiefer Ausschnitt, roter Mund. Auch das eine Form von Werbung, besser:
Propaganda.
Und
dann so manches Regionalmagazin der dritten Fernsehprogramme: Die
Moderatoren moderieren nicht, sondern sie betätigen sich als
Animateure. Ihr Grinsen entspricht dem des Kasperletheaters: Liebe
Kinder! Wenn sie einen Bericht ankündigen, setzen sie eine
lieb-Kind-Mine auf. Statt einer sachlichen Kurzeinführung verkünden
sie, was die Zuschauerin zu fühlen hat. Dann der angekündigte
Beitrag: mit Sicherheit ist auch der mit säuselnder Reklamestimme
unterlegt. Am Ende wieder die Moderatorin, mit der entsprechenden
Grimasse im Gesicht: Ist es nicht schön, lieber Zuschauer, daß wir
es zusammen gerade so schön kuschelig hatten? Wir sehen uns morgen
wieder.
Nein,
möchte ich brüllen: Du wirst mich auch morgen nicht sehen (können)!
Diese
Moderatoren sind vermutlich inzwischen alle mit der Fernsehwerbung
aufgewachsen; haben sie mit der Muttermilch eingesogen, wie es
scheint. Auf allen Kanälen, egal ob Werbung oder Magazin: die
durchgängige Aufforderung, für sich selbst gut und richtig zu
finden, was andere einem vorgeben, anpreisen, vorzeigen. Der als
mündig angesprochene Verbraucher bekommt für seine angeblich zu
treffenden Entscheidungen die passenden Kriterien aufgeschwatzt. Ja,
richtig - mündig, aufgeklärt, wollen wir ja alle sein!
Werbung.
Werbesprüche schrauben sich in die Hirne der Kleinsten. Wenn wir sie
nicht davor schützen. (Wie macht man das überhaupt?) Spätestens ab
der Grundschulzeit geht das nicht mehr. Manche Mitschüler sitzen
zuhause bereits vor dem Fernsehgerät, oft auch schon im
Kindergartenalter; das, was ihnen zuvor Reklamesprecher eingängig
angepriesen haben, klingt aus ihrem Mund wie Expertenwissen. Wer
nicht fernsieht, erhält die Reklame, während er lesen lernt: eifrig
versuchen ABC-Schüler, alles zu entziffern, was ihnen unter die
Augen kommt. Damit bahnen sich die Botschaften der Werbeindustrie
ihren Weg; Text und Illustration stellen dann Zusammenhänge her, wie
sie oft gar nicht bestehen: das Auto in der ursprünglichen
Landschaft (die wir bei uns längst plattgemacht und zugemüllt
haben); die glücklichen Kühe auf der Weide (während die meisten
Tiere ein elendes Leben bei Kunstlicht in engen Boxen im Stall
verbringen); Fleisch sei "ein Stück Lebenskraft", so die
Botschaft - doch das so beworbene Fleisch ist voller Medikamente und
Streßhormone. Die Beispiele ließen sich unendlich fortsetzen; von
den stereotypen, oft sexualisierenden Frauenbildern gar nicht zu
reden.
Eltern
können jetzt nur versuchen, zu erklären: daß Werbung lügt (nicht
unbedingt direkt, aber mindestens durch Auslassung - für kleinere
Kinder schon zu kompliziert); daß andere Produkte genauso gut sind
wie das eine, als "das beste von allen" titulierte; daß
"billig" nicht gleich "gut" bedeutet, aber auch
"exklusiv" hierfür nichts bedeuet; daß es tatsächlich
Dinge gibt, die man nicht braucht; kurz, daß man einfach nicht
glauben darf, was die Werbung von sich gibt. Und daß Frauen zwar auf
Werbeplakaten halbnackt sein dürfen, dieses aber noch lange kein
Grund ist, in aller Öffentlichkeit in Unterwäsche herumzulaufen.
Die Reklamemacher haben nur das Ziel, ihr Produkt "an den Mann
zu bringen"; vor allem dann, wenn es nur mittelmäßig gut oder
sogar von schlechter Qualität ist, aber auch, um sich gegen die
Konkurrenz durchzusetzen, sie möglichst auszuschalten. Das sind
genau die Werte, die wir unseren Kindern angeblich nicht vermitteln
wollen!
Wir
leben also in einer Gesellschaft, in der es Bereiche gibt, vor denen
wir unsere Kinder schützen müssen (die Werbung ist nur einer davon
- der Verkehr ist weit naheliegender, aber auch leider längst für
wichtiger befunden als unsere Kinder). Wir leben in einer
Gesellschaft, die es erforderlich macht, unseren Kindern frühzeitig
beizubringen, sich von Teilen dieser Gesellschaft zu distanzieren,
damit sie keinen Schaden erleiden. Wohlgemerkt, durch Menschen.
Die
Werbetreibenden haben sich wohl schon lange von uns distanziert, denn
sonst könnten sie ihr unanständiges Geschäft nicht betreiben. So
wie jeder Mensch, der die negativen Folgen seines Handelns einfach
ausblendet, sind sie ebenso von sich selbst distanziert, man könnte
auch sagen: entfremdet.
Unsere
Kinder sollen also lernen, einen Teil dieser Gesellschaft, in der sie
aufwachsen, als nicht vertrauenswürdig zu begreifen. Aber dieser
Teil ist nicht einmal gut abgegrenzt; er durchzieht den öffentlichen
Raum (Reklametafeln, vor allem an Haltestellen des ÖPNV), findet
sich in zuhause herumliegenden Zeitungen und Zeitschriften, und bahnt
sich seinen Weg in Wohn- und Kinderzimmer mittels TV-Geräten und
Computern. Wie man hört, stellen Unternehmen den finanziell
chronisch klammen Schulen bereits Unterrichtsmaterial zur Verfügung,
das Firmenlogo inklusive.
Kinder
können sich von der Welt, in der sie leben, nicht einfach
distanzieren. Einfach gesagt: Was da ist, was es gibt, was vor ihrer
Nase liegt, womit sie konfrontiert werden, wird völlig zwangsläufig
zum Gegenstand der Beschäftigung. Was da ist, muß auch richtig
sein, zumindest wenn es von Menschen stammt, mit denen man lebt. In
eine Welt hineinzuwachsen, in der so manches nicht richtig ist, ist
ein absurder Gedanke. Kinder können den nicht fassen. Erwachsene
sollten ihren Schutzwall der Rationalisierung dringend einmal
ablegen, damit sie (wieder) merken, daß eine solche Welt für
niemanden taugt.
Kinder
bringen Erwachsenen eine Menge Vertrauen entgegen. Das müssen sie
auch, denn nur von den Menschen vorangehender Generationen kann man
lernen, wie es geht: zu leben. Was Erwachsene als gut bewerten,
können Kinder nicht einfach als schlecht ansehen. Sie können
überhaupt erst ab einem bestimmten Alter begreifen, was eine Lüge
ist; und, daß sie von einem erwachsenen Menschen tatsächlich
verarscht, manipuliert, angelogen werden. Egal ob Eltern oder
Anpreiser.
Niemand
möchte als jemand gelten, der andere Menschen für die eigenen
Zwecke manipuliert. Jeder Mensch möchte sich selbst als anständig
ansehen. Und niemand möchte manipuliert und übervorteilt werden.
Doch Reklame dient nicht der Information; sie dient nicht der
Befriedigung von Bedürfnissen, sondern der Erzeugung neuer
Bedürfnisse. Wo sich selbst Psychologen in den Dienst dieser
Manipulationsindustrie stellen, ist die Gesellschaft wahrlich auf den
Hund gekommen.
Es
ist für jeden Menschen ein Schock zu merken, daß man von jemandem
angelogen wurde, dem man vertraut hat. Auch für uns Erwachsene ist
es eine Zumutung, in einer Gesellschaft zu leben, in der wir
jederzeit auf der Hut sein müssen; daß wir keinen Konsens darüber
haben, daß wenigstens Kinder nicht alles, was von anderen Menschen
kommt, in Frage stellen müssen, ist ein richtig übles
Armutszeugnis.
(Übrigens:
im Netz wird das Thema lügende Kinder durchweg als Problem gesehen,
während das Belügen von Kindern, so es überhaupt auftaucht, fast
ausschließlich gerechtfertigt wird. Auch eine Art Armutszeugnis. Zur
Ergänzung: https://www.sein.de/eltern-luegen/)