Donnerstag, 30. Januar 2014

Faulheit und Misstrauen

Ob ein Mensch arbeitsfähig ist oder nicht, weiß er selbst. Das Problem beginnt damit, daß Andere sich anmaßen, darüber zu entscheiden. Wenn das dann auch noch in Gesetzesform gegossen wird, sind die Zusammenhänge vollends auf den Kopf gestellt.

Arbeitgeber haben Angst, selbständig darüber entscheidende Arbeitnehmer würden einfach deshalb nicht zur Arbeit erscheinen, weil sie faul wären. Anders gesagt, weil sie zum Arbeiten keine Lust hätten.

Es ist ein negatives Menschenbild, das sich hierin ausdrückt. Danach sind Menschen "von Natur aus" faul; und sie arbeiten nur, wenn man sie dazu zwingt. Im sogenannten Wohlfahrtsstaat, der ja auch für "nicht arbeitende" Menschen sorgt (und Arbeiten, die von vielen Menschen umsonst verrichtet werden, gerne verschweigt), werden diese nicht mehr durch Hunger gezwungen, einer Arbeit nachzugehen. Also muß das Gesetz dafür sorgen. Und so brauchen die Ausnahmen von dieser Regel eine Begutachtung: durch Ärzte bzw. Behörden. Denn dem Menschen, der sagt, er kann nicht, so die dahinter stehende Auffassung, ist nicht zu trauen - der will sich nur drücken!

Am deutlichsten wird die Falschheit dieses Menschenbildes anhand der Kinder. Im frühesten Alter wehren sie sich gegen die Hilfestellungen der Erwachsenen. Zunächst in bezug auf sich selbst: Sie wollen sich selbst anziehen, selbst ihr Brot schmieren, selbst die Zähne putzen, und und und. Dann aber wollen sie auch helfen - sie wollen tun und dabei lernen, was Erwachsene tun, denn das führt zum Großwerden, zur Selbständigkeit.

Diese Haltung verlieren viele wieder. Dafür muß man allerdings unsere Gesellschaft verantwortlich machen, nicht ein eingebautes "Faulheits-Gen". Denn Kinder werden (inzwischen immer früher) in eine Ersatz-Welt gezwungen. Dort wird ihnen dann, pädagogisch aufbereitet, beigebracht, was sie für das Leben in der Zivilisation brauchen: daß das aber wirklich der Fall ist, ist für sie gar nicht einsehbar. Zu begreifen, daß Mathematik Fähigkeiten übt, die im Erwachsenenleben selbst in der Mathematik weit fern stehenden Berufen gebraucht werden, gelingt auch manchem Erwachsenen nicht. In der Schule zählen nur die Noten; die Heerscharen Erstsemester, die das selbständige Arbeiten nicht gelernt haben und immer noch dabei sind herauszufinden, was der Herr Professor hören will, sprechen da eine deutliche Sprache.

Hinzu kommt, daß sowohl einzelne Lehrpersonen als auch das häusliche Umfeld stark demotivierend wirken können. Vielen Kindern wird, insbesondere wenn sie aus ihren Fehlern lernen könnten, durch Schimpfen oder sonstige negative Beurteilungen jegliches Selbstvertrauen genommen. Wer von sich kaum glaubt, daß er irgendwelche Dinge anpacken und meistern könnte, wird sich eben lieber davor drücken.

Und dann passiert etwas ganz Perfides. Begegnet man nämlich Kindern mit diesem negativen Menschenbild, sagt man ihnen damit folgendes: "Von dir ist überhaupt nicht zu erwarten, daß du nötige Aufgaben freiwillig erledigst - es ist im Gegenteil damit zu rechnen, daß du dich drücken willst." Damit unterstellt man ihnen, sie müßten dazu gezwungen werden. Man muß das nicht direkt sagen; es reicht, wenn man z.B. über freiwillige Handlungen eines Kindes üblicherweise mit Erstaunen reagiert. Es reicht, wenn man ihren ausdrücklichen Motiven mit Mißtrauen begegnet. Daß so etwas demotivierend wirkt, verstehen immerhin (noch) die meisten Erwachsenen, zumindest theoretisch. Die Reaktion folgt dann (insbesondere bei Pubertierenden) auf dem Fuß: Gut, wenn du meinst, daß ich nicht von selbst tue, was anliegt, dann tu ich's halt auch nicht! Für kleine Kinder gilt ohnehin: Sie tun, was man von ihnen erwartet. Wenn das Faulheit ist, dann werden sie dem auch nachkommen.

Einerseits haben wir also, wo Menschen wirklich nicht arbeiten wollen, dazu erzogene Drückeberger. Andererseits muß man doch auch sehen, daß es viele Arbeitsplätze gibt, die der (persönlichen) Entwicklung eines jeden Menschen geradezu entgegenstehen; oder aber auch sonst eine wahre Zumutung sind (eintönige Arbeit, einseitig belastende Arbeit, Arbeit, die den Körper in hohem Grade verschleißt, etc.). Wer solcher Arbeit freiwillig nachginge, außer es bliebe ihm nichts anderes übrig, müßte ja für dämlich gehalten werden; niemand schädigt sich doch freiwillig selbst. (Die Frage, wie unsere Gesellschaft mit psychisch Kranken umgeht, die nämlich in psychiatrischen Einrichtungen qua "Beschäftigungstherapie" als billige Arbeitskräfte für die Industrie ausgebeutet werden, will ich hier ausklammern.)

Doch darum geht es offenbar: Menschen in für Menschen nicht geeignete Arbeit hineinzuzwingen. Nicht zuzulassen, daß sie sich daraus befreien. (Auch daher stammt die Forderung nach einem Mindestabstand zwischen Sozialhilfe und Niedrigverdienst.) Am liebsten sehen es doch sogenannte Arbeitgeber (als wären es nicht die Arbeitenden, die ihre Arbeit geben), wenn das Heer derjenigen, die dringend einen Job brauchen, einigermaßen groß ist - dann kann man alle möglichen Bedingungen aufdiktieren, auch gegen die Existenz einer Gewerkschaft. (Ich lasse es bei dieser Andeutung der existierenden Machtverhältnisse.) Von den betroffenen Menschen, die in solchen Arbeitsbedingungen stecken, ohne sich daraus befreien zu können, ziehen es (leider) viele vor, die noch schwächeren zu demütigen - tut ja auch weh sich einzugestehen, daß man in einer Zwangslage steckt. Da beschimpft man lieber diejenigen, für die keine Jobs mehr übrig sind, als faul. So kann man sich selbst als fleißig und pflichtbewußt deklarieren, ohne den Schmerz der eigenen Unterwerfung spüren zu müssen. (Das gilt natürlich auch für die Tretmühlen auf Luxusniveau.) Der Stammtisch hilft so, die Verhältnisse zu stabilisieren.

Unser Wohlstand, die Bequemlichkeit, die Massenproduktion - mag alles ohne unzumutbare Arbeitsplätze nicht denkbar sein. Doch wollen wir uns wirklich immer weiter für Zwang entscheiden und diejenigen, die sich dem verweigern oder bereits krank davon geworden sind, auch noch bestrafen? Wäre es nicht Zeit dafür, unzumutbare Arbeit, wo sie wirklich nicht veränderbar ist, zu teilen, so daß jeder einmal an der Reihe ist und niemand privilegiert? Und, als letzten Gedanken: Sollte man nicht gerade diejenige Arbeit, die man zurecht wirklich nicht von selbst tun wollte, eben aus diesem Grunde am höchsten bezahlen?
!!

Montag, 20. Januar 2014

Meinungsfreiheit

Meinungsfreiheit gilt als essentieller Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 5 (1), heißt es: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt." Mit der Einschränkung, natürlich, daß es sich nicht um persönliche Ehrverletzungen handelt, der Jugendschutz oder sonst ein allgemeines Gesetz verletzt wird.

Die Frage, wann jemand mit seiner (öffentlich geäußerten) Meinung ein Gesetz übertritt, ist sicher wichtig, jedenfalls häufig genug strittig. Aber hier geht es mir um etwas anderes: Was bringt uns dieses Grundrecht?

Eine nicht zu überschätzende Sicherheit gewinnen wir jedenfalls: wir können unsere Meinung äußern, egal wie (sachlich) kritisch sie gegen wen auch immer gerichtet ist, ohne negative Folgen befürchten zu müssen. Wer jetzt lacht, weil ihm oder ihr sofort Beispiele für das Gegenteil einfallen: davon kenne ich auch einige. Wir können uns sicher darauf einigen, daß selbst von diesen nicht wenige auf juristischem Wege korrigiert werden; die Sicherheit mag relativ sein, aber sie gilt für einen großen Bereich.

Gefährdet ist die Meinungsfreiheit, denke ich, auf eine andere Weise. Und zwar gerade dort, wo wir unsere Meinung äußern können, ohne daß wir ein Gesetz übertreten und uns außer den Juristen auch sonst niemand an der Äußerung hindert. Denn was nützt es, eine wohlinformierte, wohlbegründete Meinung zu haben, wenn aus ihr nichts folgt? Was nützt unsere sachgerechte Meinung, wenn wir damit auflaufen?

Der augenscheinlichste Weg, Kritik an bestehenden Verhältnissen wirkungsvoll zu äußern, sind Parlamentswahlen. Allerdings ist unsere Meinungsfreiheit hierbei sehr begrenzt, denn wir können nur zwischen vorgefertigten Meinungen wählen; außerdem sind wir gezwungen, ein ganzes Meinungspaket zu wählen, dem wir oft gar nicht vollständig zustimmen (es ist halt nur dasjenige Paket, das die eigenen Prioritäten enthält). Was aber, wenn die von uns gewählte Partei nicht an die Regierung gelangt? Dann zählt unsere Meinung nicht. Wir werden unter Umständen gezwungen, mit aus der gegenteiligen Meinung resultierenden Folgen zu leben. Ein gutes Beispiel dafür ist die Nutzung der Kernenergie: Wer immer schon der Meinung war, daß die Sicherheit dieser Art der Energiegewinnung nicht gewährleistet werden kann (neuestes Beispiel: Fukushima, von wo aus weiterhin Radioaktivität mittels Ozeanen über die ganze Welt verteilt wird), hat zwar Recht behalten; aber was nützt ihm das?

Eine Meinung, die man zwar äußern kann, aus der aber nichts folgt, ist in Wahrheit nicht frei. Wenn sie nicht auf die Verhältnisse wirkt; wenn andere sie nicht zur Kenntnis nehmen, sie erwägen, sich mit ihr auseinandersetzen - dann läuft diese Meinung einfach ins Leere. Das wiederum nimmt dem Menschen, der diese Meinung hat, das Gefühl, sein Leben kontrollieren zu können. 
 
Insbesondere auf Wahlen bezogen gilt immer diejenige Meinung für zukünftige Handlungen, der die meisten zustimmen, und oft nicht einmal das (man denke nur an die Wirkmächtigkeit von Lobbyisten, die schon häufig sinnvolle Gesetzesvorhaben zu Fall gebracht haben). Aber die Mehrheit hat eben nicht deshalb in einer Sache Recht, weil sie die Mehrheit ist. Entscheidungen, die jeden betreffen, dürften eigentlich nicht von einer Mehrheit getroffen werden; sie müssten diskutiert werden, bis ihnen jeder zustimmen kann.

Von Meinungsfreiheit kann man nur dort reden, wo eine Meinung gehört wird und Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten nimmt. Das ist bei uns aber gar nicht bzw. nur sehr eingeschränkt der Fall. Um Gehör zu bekommen, müssen jeweils Massen an Menschen mobilisiert werden - wahlweise aber eben auch manipuliert. Unterschiedliche soziale Orte eröffnen wenigen sogar das Privileg, selbstverständlich gehört zu werden; Politiker natürlich, Manager von großen Unternehmen, Gewerkschaftsvorsitzende. Die meisten von uns haben dieses Privileg nicht. Manche haben also mehr Meinungsfreiheit als viele andere.

Doch auch diejenigen, die das Privileg haben, ihre Meinung regelmäßig öffentlich äußern zu können, sind hierin eigentlich nicht frei. Politiker müssen Rücksicht auf ihre Partei nehmen, sie dürfen auch die "öffentliche Meinung" nicht außer acht lassen. Ein nicht zu unterschätzendes Problem betrifft hierbei die Vermittlungstätigkeit der Journalisten: Insbesondere wenn diese für die Nachrichtenredaktionen des Fernsehens arbeiten, haben sie aufgrund der Kürze der Sendungen bzw. der einzelnen Nachrichtenschnipsel kaum Möglichkeiten, Aussagen von Politikern ausführlich genug zu zeigen, so daß wir als ZuschauerInnen das ganze Bild erhalten würden. In der Regel sind es kurze Ausschnitte. Werden diese schlecht ausgewählt, erzeugt dies bei sehr vielen Menschen eine nicht der Sache entsprechende Meinung. Denn nicht alle sind in der Lage zu bemerken, ob ein Bericht z.B. Fragen offen läßt - man muß schon regelmäßig komplexere Zeitungsartikel lesen, um ein Gespür dafür zu entwickeln. Doch viele Menschen haben, insbesondere unter den Belastungen der heutigen Arbeitswelt, weder Zeit noch Energie, um das zu tun. Sie sind, um sich ein halbwegs zutreffendes Bild aktueller Lagen machen zu können, auf die Nachrichten angewiesen und gerade darauf, daß diese zwar knapp, aber zutreffend präsentiert werden. (Für Hartz 4-Empfänger beträgt der Posten "Nachrichtenübermittlung" momentan € 33,73 im Monat - der größte Teil davon dürfte für den Telefonanschluß gebraucht werden, dazu kommen Briefkosten; eine Zeitung ist da nicht mehr finanzierbar.)

Doch wenn Menschen über die hauptsächlich präsenten Medien nur Teil-Wahrheiten erhalten und daraus falsche Schlüsse ziehen, die ja auch ihr Wahlverhalten bestimmen - dann ist das für uns alle nicht hinnehmbar. Natürlich hat jeder die Freiheit, eine Meinung zu vertreten, selbst wenn diese durch Fehlinformationen zustande kommt. Um so wichtiger wird jedoch die Funktion der Presse: Journalisten müssen redlich arbeiten. Leider sieht man in den Hauptnachrichten sehr häufig Beiträge, die zumindest bei mir den Eindruck erwecken, daß Bundestagsdebatten polemisch geführt werden, nicht jedoch sachhaltig (übrigens mit Ausnahme der Beiträge der Linkspartei - heißt das jetzt aber, daß diese keine Polemik produziert, oder liegt das an der redaktionellen Auswahl?). Oft jedoch, das ist nicht nur meine persönliche Erfahrungen, können Menschen nicht in jedem Fall zwischen Polemik und sachhaltiger Aussage unterscheiden. Auch hier besteht etwa die Gefahr, daß Ressentiments zugestimmt wird, weil sie z.B. dem eigenen Gefühl der Machtlosigkeit abhelfen - endlich sagt mal einer die Wahrheit, heißt es dann. Ob dieser auch Ahnung von der Sache hat, geht dabei schlicht unter.

Tatsächlich spricht all das gegen die repräsentative Demokratie. Es spricht vor allen Dingen gegen eine Lebensweise, die uns in Einzelne zerlegt, die nicht mehr miteinander, sondern nur noch nebeneinander leben. Davon zeugt nicht zuletzt das Phänomen, daß Menschen Parteien deshalb wählen, weil diese ihre Interessen vertreten. Wenn man miteinander lebt, kann man nur eine solche Partei wählen, die dafür steht, als Regierung die Interessen aller Menschen zu berücksichtigen und zu balancieren. Diese Partei muß wohl erst noch erfunden werden (und im Wortsinne wäre sie dann auch keine "Partei" mehr).

Was wir brauchen, ist die Möglichkeit, auf lokaler Ebene Einfluß zu nehmen. Dies ist bisher grundsätzlich im Rahmen von Bürgerinitiativen möglich, die sich jedoch extra gründen müssen, um dann z.B. über Petitionen bzw. Bürgerentscheide die Parlamente vor Ort zur Änderung ihres politischen Handelns zu bringen. Doch die politische Passivität, in die Leute fallen, die immer wieder die Erfahrung machen, daß ihre Meinung nicht zählt, verhindert oft genug, daß Bürgerentscheide unterstützt werden - so verfehlen sie regelmäßig das vorgeschriebene Quorum. Statt dessen müßte die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger strukturell vorgesehen werden.

Nicht zuletzt stellt die immer weitergehende, völlig ausgeuferte internationale wirtschaftliche Verflechtung das größte Problem dar, wenn es darum geht, daß wir Bürger aus der politischen Hilflosigkeit herauskommen. Es muß also darum gehen, die Abhängigkeit von weit entfernten Wirtschaftsräumen nach und nach zurückzudrehen - je mehr lebensnotwendige Güter vor Ort bzw. in der näheren Umgebung hergestellt werden, desto mehr Einfluß können wir alle auf die Gestaltung unseres Lebens gewinnen. Erst dann wäre es möglich, die Vereinzelung vieler Menschen zu beenden; nicht mehr nebeneinander, sondern miteinander zu leben und damit Menschen das Gefühl zurückzugeben, ihr Leben wirklich selbst bestimmen zu können. Erst dann hätten wir, was den Namen Meinungsfreiheit wirklich verdient.