Dienstag, 22. Oktober 2013

Chancengleichheit

Von Volker Pispers stammt der schöne Satz: "Kapitalismus ist wie Lotto - da kann auch einer Millionär werden, aber eben nicht alle." Im Grunde ist hier bereits alles zum Thema gesagt: Jeder hat die Chance auf einen gut bis sehr gut bezahlten Platz in der Gesellschaft, aber diese Plätze sind, je mehr Geld und Prestige sie einbringen, desto dünner gesät.

Unsere Gesellschaft ist sehr stark arbeitsteilig organisiert. Einige Tätigkeiten verlangen wenig Vorbildung, für andere braucht man spezifische Kenntnisse; je komplizierter die Materie, desto mehr Ausbildung ist erforderlich.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich hierbei das Verhältnis verschoben: es gibt immer mehr Jobs mit hohen Anforderungen und immer weniger, für die man wenig oder gar keine Ausbildung braucht. Daher sind besonders diejenigen Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht, die über wenig oder gar keine Qualifikation verfügen. Und wer es trotz mangelnder Ausbildung geschafft hat, einen Job zu ergattern, muß seinen Verdienst oft durch staatliche Leistungen aufstocken.

Die Politik hat dies natürlich als Problem erkannt. Auch Niedrigverdiener müssten die Chance bekommen, von ihrer Arbeit leben zu können - heißt es. Selbstverständlich sollen auch die Arbeitslosen in Lohn und Brot gebracht werden, insbesondere die Jugendlichen. Dafür braucht es: Qualifikation und Bildung! Denn ohne diese, so lautet die in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitete These, haben die Menschen nun mal keine Chance auf eine Arbeit, von der sie anständig leben können.

Diese politische Forderung ist allerdings eher dazu geeignet, von der Realität abzulenken:
1. Viele unterbezahlte Tätigkeiten sind überhaupt nicht überflüssig. Büros müssen geputzt, Pakete zugestellt, Haare geschnitten, Gebäude bewacht werden; um nur einige Beispiele zu nennen.
2. Auch Berufe, für die man eine gute Ausbildung braucht, werden oft nicht angemessen bezahlt - bezogen insbesondere auf die Arbeitsbedingungen (Krankenschwestern, Erzieherinnen).
3. Die Arbeitsteilung geht in vielen Bereichen einfach zu weit. So beschäftigt etwa der Handel nicht ausschließlich einigermaßen anständig bezahlte Verkäuferinnen, sondern läßt bestimmte Tätigkeiten wie das Einräumen von Regalen im Supermarkt von "Hilfskräften" erledigen. Die Arbeitgeber fühlen sich dann berechtigt, diese Menschen schlecht zu bezahlen, weil sie ja Tätigkeiten verrichten, die keine Ausbildung erfordern. Die Stellen für gut ausgebildete Verkäuferinnen lassen sich dann reduzieren (ohnehin glaubt der Handel immer öfter, auf Verkäuferinnen verzichten zu können, die sich mit dem vorhandenen Warenangebot auskennen) - aus solchen Gründen finden qualifizierte Menschen keinen Job in ihrem Beruf, nicht deshalb, weil sie besser ausgebildet sein müßten oder mehr Bildung bräuchten.
4. Nicht jeder Mensch hat Lust auf einen Beruf, der schulische Bildung erfordert. Und es kann ohnehin nicht jeder Ärztin oder Lehrer werden, Manager, Rechtsanwältin oder Wissenschaftler. Wenn dies nun alle wollten und wirklich die gleichen Chancen dazu hätten - was gäbe es ein Hauen und Stechen um die Jobs, die in diesen und vergleichbar gut bezahlten Bereichen tatsächlich gebraucht werden!
5. Seit einiger Zeit hat sich die Unsitte etabliert, immer mehr Stellen mit PraktikantInnen zu besetzen - auch hier sparen Arbeitgeber viel Geld. Für die Betroffenen bedeutet das, sich von Praktikum zu Praktikum zu hangeln; immer in der Hoffnung, durch die so gesammelte Erfahrung endlich eine feste Stelle und damit Planungssicherheit für das eigene Leben zu gewinnen. Doch die Anzahl fester Stellen nimmt kontinuierlich ab - während die der befristeten Arbeitsverhältnisse zunimmt. Nicht zuletzt kommt Lohndumping auch durch die Etablierung der sog. Leiharbeit zustande. Die Vermittler solcher Arbeitsstellen gehören sicherlich nicht zu denen, die von ihrer Arbeit nicht leben können.
6. In 2012 gab es ca. sechs mal mehr Arbeitslose als offene Stellen; nicht darin enthalten sind diejenigen, die sich gar nicht erst arbeitslos melden (weil sie ohnehin keine Ansprüche an die Behörde haben, kleine Kinder versorgen müssen, o.ä.). Zwar ist dieses Verhältnis das beste seit langem; allerdings ging die Anzahl der Vollzeitstellen zurück, während die Anzahl der Teilzeitstellen zugenommen hat. Auch dies ein Grund, warum Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können. Würde alle anfallende Arbeit in diesem Land von Vollzeitkräften erledigt, hätten wir gegenwärtig ca. 13 Mio Arbeitslose (Wikipedia). Damit jeder Mensch von seiner Arbeit leben kann, ist es also kein Weg, alle Menschen in Vollzeit bringen zu wollen. Wer diesen Anspruch vertritt (nicht wenige Politiker tun dies), erzählt Märchen. Das muß man ganz klar so feststellen.

Brauchen wir dieselbe Chance für alle auf eine gut bezahlte Tätigkeit? Oder brauchen wir nicht vielmehr, daß jeder für das, was er arbeitet, anständig bezahlt wird? Brauchen wir nicht vielmehr gerechte Verhältnisse? Gerecht wäre es sicher nicht, wenn zwar alle Menschen nahezu gleich gut ausgebildet wären, aber trotzdem nur wenige einen Job haben könnten, in dem so richtig gut verdient wird - während der große Rest qua Sanktionsandrohung in finanziell und von den Arbeitsbedingungen her unattraktive Jobs gezwungen wird, die ja von irgendwem erledigt werden müssen. Dies gleicht in der Tat dem Lottospiel: Hoher Einsatz (Bildung, Ausbildung, Weiterbildung, mit den entsprechenden finanziellen Kosten), geringe Chance auf auch nur halbwegs hohen Ertrag. Und die Spielregeln machen immer die Anderen: die, die an den Töpfen sitzen und über die Ressourcen verfügen.

Es fällt doch eines auf: die richtig gut bezahlten Jobs betreffen fast ausschließlich abstrakte Tätigkeiten; also solche Arbeiten, die vom Alltagsleben und den unmittelbaren Notwendigkeiten eher entfernt sind. Die können aber nur ausgeübt werden, weil es Menschen gibt, die für die Lebensgrundlagen aller sorgen - also Bäcker, Bauern, Arbeiter in der Lebensmittelindustrie, Näherinnen (inzwischen hauptsächlich in Billiglohn-ländern), Arbeiter im Transportwesen, Küchenhilfen in Kantinen, etc. Alles Jobs, mit denen man eher wenig verdient, wenn es denn zum Leben reicht. Zugespitzt gesagt: Diejenigen, die viel verdienen, stützen sich auf die, die wenig verdienen - eine Unverschämtheit!

Hoher Verdienst (häufig genug auch unanständig hoch) wird gerne mit einer hohen (Aus-)Bildungsdauer gerechtfertigt. Ich finde, das ist eine äußerst arrogante Haltung; denn hierbei wird die Bezahlung an Neigungen, Begabungen und soziale Herkunft geknüpft. Also an Merkmale, die er einzelne Mensch kaum beeinflussen kann. Wer in einer Arztfamilie aufwächst, erhält eine ganz andere Art von Anregungen für sein Leben als derjenige, dessen Eltern sich mit Hilfsarbeiten über Wasser halten - nicht zuletzt deshalb, weil erstere dafür eine Menge Geld ausgeben kann (schlechtes Material für den Kunstunterricht läßt nun mal keine Freude aufkommen). Aber auch die Interessen der Eltern, die in einem Akademikerhaushalt erfahrungsgemäß vielfältiger und reichhaltiger sind (auch hierfür braucht man in unserer Gesellschaft Geld!), fördern natürlich den Nachwuchs (alles soziologisch untersucht, ohne große politische Konsequenzen). Beispielgebend sind immer die Erwachsenen im unmittelbaren Umfeld; deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Kinder dieselben oder ähnliche Berufe ergreifen wir die Eltern. Und wenn die Eltern ihren Kindern von dieser Berufswahl nur abraten können, weil sie selbst kaum noch genug verdienen; dann können sie ihnen oft nicht helfen, besonders, wenn es ums Studieren geht. Daß es Bafög gibt, reicht eben nicht aus; die Arzttochter hat allein aufgrund ihrer Herkunft einen kulturellen Vorsprung gegenüber dem Sohn der Verkäuferin.

Wer gerne mit Pflanzen zu tun hat, lieber an der frischen Luft arbeitet als in einem klimatisierten Büro - der würde sich mit der Wahl eines Bildungsberufes ohnehin eher schaden. Doch warum soll er deswegen weniger verdienen als der Angestellte im höheren Management? Der selbstverständlich seinen Garten mit Gewächsen aus der Baumschule versehen läßt, anstatt diese selbst heranzuziehen. Warum glaubt er, der Nutzen, den er davon hat, wäre es nicht wert, ebenso gut bezahlt zu werden wie seine eigene Arbeit? -- Und wer lieber mit Menschen zu tun hat: Warum soll die Altenpflegerin weniger verdienen als der Gesundheitsminister? Beide leisten Unterschiedliches; aber wenn wir auf eine der beiden Tätigkeiten verzichten könnten, dann wohl am wenigsten auf die der Altenpflegerin. 

Auch das Argument von der höheren Verantwortung, die in vielen Berufen zu tragen sei, geht meiner Meinung nach an der Sache vorbei. Verantwortung trägt die Krankenschwester für den Patienten genauso wie der Chirurg oder der Chefarzt (ärztliche Behandlungsfehler sind offenbar gar nicht so selten). Verantwortung trägt die Bäuerin (für unsere Ernährung) genauso wie der Konzernmanager, von dessen Entscheidungen viele Arbeitsplätze abhängen. So wie die Bäuerin, hat auch der Manager Verantwortung für die Umwelt; und beide hängen wiederum in dieser Frage von politischen EntscheidungsträgerInnen ab. Ich sehe nicht, wie man hier messen sollte, wer mehr oder weniger Verantwortung trägt. Wer nicht sorgfältig und mit Aufmerksamkeit arbeitet, wird in jedem Beruf verantwortliche Arbeit leisten.  (Um ein aktuelles Beispiel zu erwähnen: Die Verantwortlichen in der Autoindustrie nehmen eben diese Verantwortung gegenüber der Klimaveränderung gar nicht ernst, sondern ganz im Gegenteil. Sie haben erneut dafür gesorgt, daß strengere CO2-Werte von der Bundesregierung in Europa blockiert werden. Wenn es also wirklich um Verantwortung ginge, müßten deren Gehälter ja wohl schon längst gekürzt worden sein!) Einige Jobs sind sicher fehlerfreundlicher als andere. Doch gravierende Fehler eines Arztes lassen sich häufig gar nicht nachweisen, anders als der Fehlbetrag in der Kasse der Kassiererin - den sie u.U. aus der eigenen Tasche begleichen muß, und bei dem es nur um wenig Geld geht, nicht um die Qualität eine Menschenlebens. Hieraus ergibt sich erst recht kein Argument für unterschiedlich hohen Verdienst!

In Wirklichkeit geht es doch um etwas ganz anderes: Wieviel einer verdient, wieviel "die Gesellschaft" bereit ist, für seine Arbeit zu bezahlen, daran zeigt sich die Wertschätzung eben dieser Arbeit. Mit dieser Wertschätzung liegt offenbar manches im Argen: Warum soll die Arbeit der Putzfrau, die den Dreck Anderer beseitigt, weniger wert sein als die Arbeit eines Dozenten an der Universität? Die Putzfrau hat nur das Pech gehabt, daß irgendjemand putzen muß; ihr Job existiert, weil die Hochschulangestellten nicht selbst putzen; und weil es nicht für alle einen Job im höher bezahlten Bereich gibt, bleibt ihr nichts anderes übrig.
Und eintönige Tätigkeiten, die hauptsächlich Geduld und Langmut erfordern, das Potential für Kreativität hingegen eher schädigen: Sollten nicht gerade diese, zum Ausgleich, gut bezahlt werden?

Arbeiten, die kaum oder keine finanzielle Wertschätzung erfahren, sollte niemand tun müssen. Der Staat zwingt jedoch dazu, solche Arbeiten zu verrichten. Entweder beendet er diesen Zwang (mittels Hartz4 u.ä.), oder er sorgt gleich für angemessene Bezahlung und darüber auch für eine Aufwertung dieser Tätigkeiten. Zumindest auf die Arbeitszeit bezogen, muß der Minister nicht mehr verdienen als der Bäcker, der ihm sein Brot backt oder die Putzfrau, die hinter ihm sauber macht. Besser noch, er putzt sein Büro selbst.

Bisher sind wir eine Gesellschaft, in der die Bezahlung einer Tätigkeit nichts damit zu tun hat, wie wichtig diese ist. Möglicherweise käme es darauf an, diesen Zusammenhang endlich herzustellen. Auf jeden Fall sollte jeder Mensch, egal welche Arbeit ihm oder ihr besonders liegt, anständig bezahlt werden. Der Begriff der Chancengleichheit, der ohnehin nur zur Verschleierung demütigender Verhältnisse dient, könnte dann endlich dahin entsorgt werden, wo er hingehört: Auf den Müllhaufen der Geschichte.