Freitag, 17. Oktober 2014

Aktives & Passives Zuschauen: Wie das Fernsehen die Demokratie untergräbt

Schnelle Schnitte, starke Effekte, eine Flut an Eindrücken - das scheint eine inzwischen weit verbreitete Machart von Fernsehsendungen zu sein. Informationen gibt es nur als Schnipsel, wenn überhaupt. Zusammensetzen kann man sie nicht, denn dafür bräuchte es Ruhe; doch sobald man anfängt, einen Faden des Nach- bzw. Mitvollziehens des Präsentierten zu knüpfen, wird man durch die nächste Effekthascherei daran gehindert.

Darin liegt der Unterschied zwischen aktivem und passivem Zuschauen - die aktive Zuschauerin ist mehr oder weniger bewußt damit beschäftigt, das Gesehene zu verorten; einzuordnen in bereits Bekanntes, aufzumerken wo Neues auftaucht, und auch zu erwarten, daß kommt, was sie schon kennt, weil es logisch, thematisch, sachlich dazugehören würde; zusammen mit der Neugier darauf, in welchen Zusammenhang das Erwartete (möglicherweise überraschend) gestellt wird. Passiv zusehen heißt, daß all dies unterbleibt. Der Zuschauer läßt den Strom der Bilder über sich ergehen; ob er dranbleibt oder nicht, hängt allein von seinem Wohlbefinden ab.

Passives Zuschauen ist die Voraussetzung dafür, daß man durch oben beschriebene Weisen der Darstellung nicht gestört wird. Daß Mitdenken nicht möglich ist, wird nicht bemerkt; ein Faden wird allenfalls als Kette von Assoziationen geknüpt. Man braucht sich mit nichts auseinanderzusetzen, insbesondere nicht mit sich selbst. Es liegt nur mehr ein Reiz-Reaktionsschema vor: Die Sendung liefert Stichworte ohne Kontext, die man beliebig in die eigene Mentalität hineinverweben kann. Jeder wie er will, und jeder wieder anders. Fallen die falschen Stichworte, schaltet man um. Irgendeines dieser vielen Reizüberflutungsprogramme wird schon die richtigen liefern.

Vermutlich lassen sich die meisten von uns ab und zu auf diese Weise, wie wir es nennen, berieseln. Man "schaltet ab", gewinnt Abstand von einem Berufsalltag, der von uns oft immer mehr fordert. Und wenn es nur das wäre - halb so wild.

Aber: Zum Problem wird uns diese Sorte Programm, wenn wir uns damit in ein passives Zuschauen geradezu einüben. Denn damit einher geht auch die Gewöhnung an eine Verarbeitung von Eindrücken, die mit "Denken" nicht mehr unbedingt viel zu tun hat; man übt sich eher darin, nicht mehr zu denken. Die Gefahr ist, daß sich dies auf andere Bereiche überträgt und wir, ohne es zu wollen, unkritisch werden, weil wir uns Hinschauen, Zur-Kenntnis-Nehmen, Gesehenes in Kontexte einbetten abgewöhnen. Ohne es zu bemerken, gehen uns diese Fähigkeiten im ganz wörtlichen Sinne verloren - weil wir sie nicht mehr (aus-)üben.

Ein kurzer Exkurs sei den so beliebten politischen Talkshows gewidmet, die ja mit dem Anspruch auftreten, eine Schnittstelle zwischen Politik und WählerInnen einzunehmen und insofern zur politischen Willensbildung beizutragen. Ob ihnen das gelingt, ist natürlich in hohem Maße davon abhängig, daß die Gäste den passenden, d.h. folgerichtigen Fragen und Nachfragen ausgesetzt werden. Oft kommt es allerdings vor, daß ModeratorInnen dieses Nachhaken unterlassen, weil sie (wie es aussieht) ihre vorgefertigte Liste an Gesichtspunkten abarbeiten wollen. Ich habe auch schon erlebt, daß spannende Diskussionen, in denen die Gäste lebhaft ihre Argumente austauschten, einfach abgebrochen werden. Wohl u.a. deshalb, weil auch das nicht zum Protokoll gehört? (Einem der Moderatoren konnte ich dabei zusehen, wie er einem Gast ins Wort fiel, der damit beschäftigt war, die ihm zuvor gestellte Frage zu beantworten. Diese Sendung habe ich nicht mehr eingeschaltet, aber die Quoten sind, trotz vieler Zuschauerproteste, nach wie vor hoch.) Nicht wenige dieser thematisch durchaus interessant angelegten Sendungen verkommen so zu schlechter Unterhaltung, während die Zuschauer sich, wo sie das Fehlen einer Frage nicht von selbst bemerken, bestens informiert fühlen. In jedem Fall ist wohl davon auszugehen, daß das, was Gäste aus der Politik dort von sich zeigen, als Information aufgenommen wird und meinungsbildend wirkt, selbst wenn sie durch eine unglückliche Moderation ihre Beiträge nicht vervollständigen können. -- Die Grenzen zur Manipulation sind fließend.

Während Erwachsene grundsätzlich die Chance haben zu merken, was ihnen da geschieht (spätestens dann, wenn man nicht mehr in der Lage ist, ein anspruchsvolles Buch zu lesen), sieht das bei Kindern anders aus. Wie jeder weiß, der mit Kindern zu tun hat oder hatte, sind Kinder in ihrer Aufmerksamkeit sehr leicht zu fesseln. Insbesondere der Fernseher nimmt dabei eine eher unrühmliche Rolle ein. Natürlich (und zum Glück) gibt es auch Sendungen, die Kreativität anregen. Doch wo aktives Zuschauen verunmöglicht wird, können sich Kinder besonders schwer entziehen (und man kann sie kaum loseisen). Bereits die vielen bunten Bilder fordern zur Aufmerksamkeit auf. Insbesondere die schnellen Wechsel führen jedoch dazu, daß die Kinder nahezu kleben bleiben; denn jeder neue Eindruck muß verarbeitet werden. Erst ein Erwachsener kann überhaupt die Fähigkeit entwickelt haben zu bemerken, daß seine Verarbeitungsversuche permanent gestört werden, weil das nächste Bild, die nächste Szene viel zu früh kommt. Der Erwachsene hat aber auch längst in seinem Leben eine Menge erlebt; der Strom der Bilder enthält nicht wirklich viel Neues. Auf Kinder kann er allerdings nur überfordernd wirken. Kinder saugen alles auf, wie ein Schwamm, und sie können noch nicht loslassen - jedes neue Bild erzwingt neue Aufmerksamkeit. Der Prozeß des Ansehens, der Verarbeitung, d.h. der Integration des Gesehenen in den eigenen kognitiven Strom beginnt mit jeder neuen Information von vorne, ohne daß er auch nur zu einem vorläufigen Abschluß gelangen könnte - denn schon ist das nächste Bild verpaßt. Das erzeugt Streß; je länger ein Kind dem ausgesetzt ist, desto größer ist diese Reizüberflutung.

Es ist hoffentlich einzusehen, daß die Einübung in derartige Wahrnehmungsmuster einen fatalen Einfluß auf das Denken haben muß: Die eigene Leistung, die man in der Wahrnehmung erbringt, nämlich sie mit einem roten Faden zu versehen - also Zusammenhänge zu entdecken, Unterschiede zu bemerken, Widersprüche auszumachen - diese Leistung kann nicht erbracht werden. Man übt sich ein in eine Wahrnehmung, in der man das Wahrgenommene nicht mehr selbst verknüpft; das übernimmt die Sendung. In vielen Zeichentrickfilmen ist diese Verknüpfung aber nicht einmal sachgerecht: Wer auf den Kopf geschlagen wird, sieht zwar Sterne, ist aber in der nächsten Szene, im nächsten Bild überhaupt nicht beeinträchtigt; selbst wenn ein Verband eine Wunde andeutet, so trabt doch der Held munter weiter durch die Szenen. Auch Dokumentationen reihen oft genug bloß einen Informationsschnipsel an den anderen, ohne daß ein Faden erkennbar wäre. Bereits bei der Herstellung der Sendung wurde das Denken offensichtlich durch die Bildung von Assoziationsketten ersetzt. Es ist, als würde man die Teile eines Puzzles nicht nebeneinander, sondern einzeln nacheinander, in beliebiger Reihenfolge präsentiert bekommen (während man das eine anschaut, ist das vorhergehende weg und wird auch nicht wieder auftauchen) - und auch das nur zur Hälfte.

Wo nach- und mitvollziehbare Zusammenhänge nicht mehr gebildet, Informationen nur noch aneinandergreiht und in keinen Kontext gestellt werden, da bleibt über kurz oder lang das Denken auf der Strecke. Damit wird aber auch nicht gelernt, was ein Argument ist; die Unterscheidung zwischen einem Argument und einer Behauptung fällt ganz einfach unter den Tisch. Man lernt nicht, Gesehenes, Gelesenes, Gehörtes folgerichtig zu verbinden und reflektierend zu verarbeiten - statt dessen knüpft man sich dran, wenn es emotional passt, oder reagiert mit Ablehnung, wo es die eigenen Gefühle nicht bestätigt. Dies unabhängig von jeglichem Inhalt; Kritikfähigkeit wird nicht ausgebildet.

Sicher ist das zu häufige Ansehen solcher Fernsehprogramme (sowie die Erwachsenen, die ihre Kinder nicht davon losreißen) nicht der alleinige Grund für das Unvermögen, kritisch zu denken bzw. zu urteilen; aber es ist ein Faktor, der angesichts des weit verbreiteten, oft recht hohen Konsums des Mediums Fernsehen wohl nicht unwesentlich ins Gewicht fallen dürfte. Solche Sendungen sind verbreitet, und mein Eindruck ist, daß es immer mehr davon gibt. Eine Demokratie kann nicht daran interessiert sein, daß sie überhaupt produziert werden. Denn wer das reflektierende Denken nicht lernt und übt, entscheidet letztlich, auch wenn er sich selbst etwas anderes einbildet, mittels Emotionen. Demagogen gehen hier erfolgreich auf Stimmenfang - der Erfolg der Teaparty in den USA muß dafür als warnendes Beispiel gelten.

Wer nicht urteilsfähig ist, kann nicht als demokratiefähig gelten. Hierin liegt die Gefahr für uns alle.