Sonntag, 18. Mai 2014

Zum Menschenbild des Kapitalismus


Empfänger von Sozialleistungen gelten in weit verbreiteten Kreisen unserer Gesellschaft als faul. Eine ganze Bürokratie wurde ersonnen und entwickelt, um dieser unterstellten Faulheit auf die Sprünge zu helfen. Wer nicht arbeitet, d.h. wer keine offiziell anerkannte Arbeitsstelle besitzt, wird beschäftigt: so-und-soviel Bewerbungen im Monat schreiben, egal wieviel Angebote es für den Einsatz der eigenen Fähigkeiten überhaupt gibt; hier das x-te Bewerbungstraining, dort die x-te Bildungsmaßnahme - nicht zu vergessen die regelmäßigen Anträge mit allerlei Nachweisen und Bescheinigungen, damit man überhaupt Geld zum nackten Leben bekommt.

Dahinter steht ein Menschenbild, demzufolge Menschen "von Natur aus" faul sind; würden sie nicht zur Arbeit angehalten, würden sie sich den ganzen Tag vergnügen (aus demselben Grund glaubt man, Kinder zum Lernen "motivieren" zu müssen). Daher stehen auch diejenigen, die zu krank zum Arbeiten sind, unter permanentem Beweisdruck - damit auch ja nicht der Hausarzt oder Psychotherapeut etwa dabei helfen, daß sich einer vor der Arbeit drückt, werden Betroffene regelmäßig zum Amtsarzt geschickt; so will man sichergehen, daß auch wirklich kein Betrugsversuch vorliegt. Den persönlichen Ärzten von Leistungsempfängern wird also ebenfalls mißtraut - mindestens sehen sie sich dem Verdacht ausgesetzt, manipulierbar zu sein. Bezeichnenderweise protestieren sie bzw. ihre Berufsverbände nicht dagegen; es scheint, als würden sie das Vorurteil, wonach Menschen grundsätzlich nicht zu trauen ist und also kontrolliert werden müssen, um sich nicht zu bereichern, selbst auf sich anwenden.

Es gibt eine Menge Jobs, die die meisten Menschen nicht freiwillig tun würden; wenn sie keine andere Arbeit finden, halten sie meist solche Tätigkeiten immer noch für besser, als überhaupt keine Arbeit zu haben. Niemand liegt anderen gerne auf der Tasche, wenn es anders geht - nicht deshalb, weil die Leute bürokratische Schikanen (zurecht) fürchten würden. Aber dabei muß der Selbstwert stimmen. Wer sich in einem Job schlecht behandelt und obendrein mies bezahlt sieht, mag das Amt vorziehen. Wer dies einem Menschen vorwirft, verlangt von ihm, seine Selbstachtung fallen zu lassen, mithin: sich selbst zu verraten.

Und hier liegt sicherlich der eigentliche Grund für die vielen Ressentiments Sozialgeldempfängern gegenüber: man neidet ihnen, daß sie Geld bekommen, ohne sich dabei zu verraten. Daß das durchaus nicht der Realität entspricht, weil man gegenüber der Behörde so manchen Kotau machen muß, wird dabei ignoriert. Es kommt nämlich darauf an zu verleugnen, daß man sich selbst in einer Arbeitssituation befindet, die man nur zu gerne aufgeben würde, wenn man denn könnte. Ob das die Arbeit an sich ist oder ein schlechtes Arbeitsklima, ob einem der Chef zusetzt oder auch einfach "nur" die Arbeitszeiten, die man nicht bestimmen kann - wer eine solche Situation nicht verläßt oder, falls möglich, gar nicht erst versucht, sie zu verbessern, begeht in der Tat Selbstverrat. Und weil man sich so schwer eingestehen kann, daß man sich etwas bieten läßt, was man sich aus guten Gründen nicht bieten lassen sollte, greift man zum Ressentiment: Guck mal da, die verweigern sich einfach (so die Projektion)! Ich muß ja auch schuften; man kann eben nicht immer tun, was man will - man kriegt im Leben nichts geschenkt (so die Rationalisierung).

Es stimmt ja wirklich nicht. Kein Mensch ist von Natur aus faul. Kinder sind erpicht darauf, alles zu lernen, was es in ihrer Umgebung zu lernen gibt. Da ist natürlich zunächst das eigene Zuhause, in dem geputzt, gekocht, gebacken wird. Was die Großen tun, wollen die Kleinen auch können. Für vieles davon sind sie aber in der Tat noch zu klein und werden vertröstet - wenn Du mal groß bist. Die Berufsträume beschränken sich auf das jeweils Sichtbare: Lokführer, Lehrerin, Bauarbeiter, Krankenschwester .... alles, wo sich ein Kind bereits hineinsehen kann (daher auch geschlechtsspezifisch, wo Mädchen keine Lokführerinnen sehen und Jungen keine Krankenpfleger).

Dann kommt die Schule. Die Schule wird Vorschulkindern immer verkauft als eine Institution, die ihnen das Groß-Werden ermöglicht. Der Spruch vom "Ernst des Lebens" ist in diesem Sinne durchaus nicht bloß als Drohung zu sehen (so er denn vom "Spielen" abgegrenzt wird), er bedeutet auch das "Ernst nehmen", also das "Ernst-genommen-werden" von Kindern. Daher sind jedenfalls die meisten mächtig stolz, wenn sie endlich in die Schule kommen - sie haben ihrem Verständnis nach damit das Tor in die Erwachsenenwelt durchschritten.

Die Ernüchterung folgt natürlich irgendwann. Denn was das, was in der Schule gelernt wird, mit dem (oft viel spannenderen) Leben "da draußen" zu tun hat, erschließt sich lange nicht, einigen wohl auch niemals. Da kommt es darauf an, sich für die Unterrichtsinhalte an sich zu interessieren. Ob und wie sehr das einer schafft, hängt logischerweise vom Elternhaus ab - und hier sind die sog. Bildungsbürger bzw. deren Kinder eindeutig im Vorteil. Ob die einen intellektuell begabter sind als die anderen, oder ob soziale Unterschiede sich in aller Regel fortschreiben, sei dahingestellt - Fakt ist, daß nicht alle überall gleiche Leistungen zeigen; sie lassen sich schon nicht gleichermaßen für das, was sie lernen sollen, interessieren bzw. motivieren. Der Druck ist groß; irgendwann kapiert auch der letzte, daß er ohne weiterführende Schule wenig Chancen hat. Aber auch die Eltern scheinen (vor lauter Angst, ihre Kinder könnten "auf der Strecke bleiben") immer mehr zu einem Klima beizutragen, in dem es nur noch um Leistung geht, nicht darum, "man selbst" zu werden. Lernen ist längst als Konkurrenz etabliert.

Dadurch bilden sich aber keine Persönlichkeiten; die Persönlichkeit des Kindes und dessen Autonomie spielen keine Rolle. Kinder lernen immer früher, daß das, was für sie richtig ist, nicht zählt. Von den Erwachsenen (deren Alltag immer stärker äußeren Zwängen unterliegt) zunehmend in jüngerem Alter in Institutionen abgedrängt, übernehmen sie einen Blick auf sich selbst, in dem ihre Persönlichkeit nicht mehr vorkommt, sondern nur noch die Frage, wie sie in einer Welt beständig knapper werdender Chancen bestehen können. Ohne Abschluß einer weiter-führenden Schule (der inzwischen Voraussetzung auch für immer mehr Lehrberufe ist) droht die Armutsfalle.

Während die einen mit 15 oder 16 Jahren eine Lehre beginnen, drücken die anderen weiter die Schulbank. Wirklich "groß" sein in dem Sinne, daß man vor allem auch finanziell endlich selbst über sein Leben bestimmten kann, zieht sich besonders bei Gymnasiasten länger hin; im Falle eines Studiums weit in den Eintritt des Erwachsenenalters hinein. Ihre kapitalistische Lektion haben dann alle gelernt: die Lehrlinge, die sich frühzeitig in Unterordnungsverhältnisse einüben, dafür nach nicht allzu langer Zeit mit eigenem Geld und entsprechenden Konsummöglichkeiten "belohnt" werden; die Akademiker, die zwar länger hingehalten wurden, dafür aber (wenn alles gut geht) mit höherer materieller "Entschädigung" rechnen können sowie mit einer Arbeit, bei deren Gestaltung sie wesentlich mehr Freiheit haben als andere. Abhängig sind sie alle von ihren jeweiligen Arbeitgebern. Und sie sind dazu verdonnert, den Beruf, den sie einmal gewählt haben (in einem Alter, in dem man sich schon aufgrund der fehlenden Lebenserfahrung leicht irren kann), bis zum Renteneintritt auszuüben. Nicht wenige werden sich unter dem, was sie werden wollten, etwas anderes vorgestellt haben. Doch wer sich völlig neu orientieren möchte, muß dies erst mal finanzieren können. Also weiterarbeiten, dafür aber für neues Lernen gar keine Zeit haben. Da ist es besser, arbeitslos zu werden - so gibt es wenigstens Chancen, eine Umschulung finanziert zu bekommen. Doch auch hier setzt der Staat den Rahmen; wer plötzlich meint, seine künstlerische Ader ausleben zu wollen, wird in die Röhre gucken. (Nach allem ,was man so hört, verdient sich hier eine nicht gerade kleine "Weiterbildungsindustrie" eine goldene Nase, während die Qualität der Ausbildung in vielen Fällen durchaus zu wünschen übrig läßt.)

Der Frust über falsche oder fragwürdige Entscheidungen wird im allgemeinen "Midlife-crisis" genannt. Auch die in die Selbständigkeit gehenden Erwerbstätigen entkommen der Abhängigkeit nicht: hier sind es "der Markt" und die Banken. Wer einmal in den Schulden hängt, kommt so leicht nicht mehr heraus - der muß weiterschuften.

Das "Abstandsgebot" zwischen unteren Lohngruppen und Hartz-IV-Satz dient nur dazu, daß sich die Menschen weiter in auch unzumutbare Arbeitsverhältnisse fügen. Daß sie nicht darauf bestehen, ansprechendere Tätigkeiten auszuüben, bei denen sie mehr Verantwortung bekämen und die ihren Selbstwert nicht verletzen.

Ressentiments gegen diejenigen, die im Kampf um die typischen Berufsmuster auf der Strecke bleiben und in Hartz-IV landen, haben eine weitere Funktion: Sie lenken ab von denjenigen, die sich tatsächlich an der Arbeit anderer bereichern, nämlich Unternehmen, Banken, "global player". Die Empörung über unanständig hohe Vorstandsgehälter mag groß sein, die Machtlosigkeit, daran etwas zu ändern, allerdings auch. Sich gegen die Unteren zu wenden (mit denen man als Inhaber eines Arbeitsplatzes in Wahrheit ja niemals tauschen wollte), senkt die inneren Spannungen und läßt einen die eigene Lage und das übervorteilt werden durch die Mächtigen weiter ertragen. Der Kapitalismus braucht seinen Stammtisch.

Was wäre dagegen zu tun? Zunächst müßten die Menschen aufhören, immer weiter Kinder dazu zu erziehen, sich diesem Machtsystem zu unterwerfen. Denn die äußeren Zwänge reichen als Erklärung für ein weit verbreitetes Duckmäusertum nicht aus - es wird, auch wenn dies nicht bewußt geschieht, in jedem Falle die Entscheidung getroffen, das Selbstwertgefühl zugunsten materieller Sicherheit aufzugeben. Ohne Selbstwertgefühl aber verschiebt sich die Perspektive hin zu derer der Mächtigen. Man redet sich ein, daß man sich nicht unterwirft, sondern einer "Sachlogik" gehorcht.

Derselben Sachlogik unterwirft man dann seine Kinder. Nur daß man es nicht so nennt. Man redet sich ein, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen man lebt, wären alternativlos. Darüber übersieht man aber, daß man seinen Kindern tatsächlich damit Gewalt antut, sie in diese Verhältnisse hineinzuzwingen:

Wir machen uns gar keine Gedanken mehr, ob die Art unserer gesellschaftlichen Organisation für Kinder überhaupt geeignet ist. So zwingen wir ihnen unsere Strukturen einfach auf. Der ganze Alltag ist segmentiert. Wir arbeiten außerhalb unseres Zuhauses, im Normalfall einige Kilometer entfernt; wir sind für unsere Kinder, wenn sie uns brauchen, nicht erreichbar. Die geburtenstarken Jahrgänge hatten oft noch Mütter, die zuhause blieben und sich um sie kümmern bzw. im Bedarfsfall zur Verfügung stehen konnten, doch das hat sich (aus guten und schlechten Gründen) längst geändert. Allerdings hieß es auch für diese Kinder, ihr Betätigungsfeld auf den extra eingerichteten Spielplatz zu beschränken. Was außerhalb des Zuhauses geschah, was Papa den ganzen Tag machte, blieb ihnen verschlossen. Wenigstens hatten die Mütter noch Zeit; auch wenn sie ihre Kinder zum Einkaufen mitnehmen mußten, konnten sie sich doch damit auf sie einstellen. Das geht heutzutage nicht mehr. Inzwischen haben alle Erwachsenen "erwerbstätig" zu sein; die Kinder werden in immer früherem Alter außer Haus betreut. Wenn Mama und Papa morgens zur Arbeit müssen, hat also auch das Kind aufzubrechen. Etwas anderes als den Kindergarten oder die Krippe hat es nicht vorzuhaben.
Die meisten von uns sind darin eingeübt, den Protest der Kinder zu mißachten. Das Kind wolle seinen Willen durchsetzen, heißt es dann. Es müsse eben lernen, daß nicht alles geht, was es will.
Hier liegt tatsächlich ein großer Irrtum vor: das Vorurteil, man würde lernen, sich (auch) mal an andere anzupassen, indem diese einen dazu zwingen. Das Gegenteil ist der Fall. Kinder wollen selbständig werden. Dazu müssen sie aber nicht nur in der Lage sein, das Erwachsenen-Leben zu beobachten (bei uns werden sie aus dem Alltag der Erwachsenen immer früher entfernt); sie müssen vor allen Dingen ihre Lernschritte selbst vollziehen. Sie müssen sich räumlich und geistig/intellektuell von selbst bewegen. Wenn sie vor der Zeit dazu gedrängt werden, d.h. wenn sie in ihrer Entwicklung noch nicht so weit sind, lernen sie nur eins: daß das, was sie brauchen, nicht zählt - aber auch nicht ihre Überforderung. Die wird entweder per direkter Machtausübung ignoriert, oder die Kinder werden "vernünftig" dazu überredet, etwas auszuhalten, was ihnen u.U. äußerste Angst macht. Eine Angst, die sie nur verdrängen können, die in späteren Lebensabschnitten, gerade wenn es darum geht, sich vom Elternhaus abzunabeln, aber wieder auftaucht.

Selbständig kann nur werden, wer sich von alleine traut. Ein Krabbelkind entfernt sich von der Mutter, um jederzeit zu ihr zurückkehren zu können - wenn es die Sicherheit ihrer Nähe braucht. Die Ausflüge werden größer, die Kinder mutiger, ihr Sicherheitsgefühl wächst. Das gelingt nur, wenn sie Mama (oder Papa) wieder vorfinden, wo sie sie verlassen hatten; sind sie weg, geraten sie in Panik. Kinder, die in die Krippe gebracht werden, dürfen sich nicht von selbst entfernen - sie werden von den Erwachsenen dazu gedrängt. Nur weil man es schafft, das Kind nach und nach dazu zu bringen, dort zu bleiben und nicht mehr zu weinen, heißt das nicht, daß die Situation für das Kind in Ordnung ist. Es ist im Gegenteil damit zu rechnen, daß es Schmerz und Überforderung angesichts der nicht auf es hörenden Erwachsenen verdrängt und einen wesentlichen Teil seiner Basis-Sicherheit gar nicht erst erwirbt.
Natürlich kann ich das so nicht beweisen. Es gibt, wie in allen Bereichen, auch hier wissenschaftliche Untersuchungen, die zu gegenteiligen Ergebnissen gelangen - die einen erklären Krippen für unproblematisch, die anderen sehen die Kinder emotional beschädigt daraus hervorgehen. In jedem Fall läuft hier ein flächendeckendes Großexperiment, dessen Opfer, wie üblich, die Kinder sein werden. Ich will nur zu bedenken geben, daß bereits jetzt die Angsterkrankungen unter jungen Erwachsenen zunehmen. Auch wenn natürlich nicht alle Angststörungen auf außer-Haus-Betreuung zurückzuführen sind: Für diese Generation war "nur" der Kindergarten selbstverständlich - die Folgen der Krabbelstube kommen erst noch.

Angst, die man verdrängen muß, weil sie durch die Erwachsenen als nichtexistent gesehen wird, macht gefügig. Als erwachsener Mensch schafft man es dann nicht, sich gegen Mächtige zur Wehr zu setzen, weil der Wunsch, sich zu wehren, aus der (inzwischen unbewußten) Kindheitserfahrung heraus sofort Angst triggert. Rationalisierung und Ressentiment gegen die von der Gesellschaft im Stich gelassenen Menschen helfen dann dabei, diese Angst möglichst nicht zu empfinden. Denn mit der Angst droht unermeßliche Hilflosigkeit aufzusteigen - die Erfahrung war ja, daß der Protest gegen die mächtigen Erwachsenen nicht geholfen hat. Man wurde nicht gehört. Man hat, ohne es zu wissen, diese Prämisse mit in sein Erwachsenenleben genommen: Wenn du dich wehrst, hört eh keiner auf dich. Also schlucke deinen Schmerz und lasse die anderen über dich bestimmen.

Weil dieses schwer bewußt zu machen ist, bleibt der Kapitalismus so stark. Weil wir die Sicht der Mächtigen auf uns übernehmen, unterdrücken wir unser Gefühl für das, was uns gut bzw. nicht gut tut. Wer sich dem nicht unterwirft, wer krank wird, wen wir einfach ausgrenzen - den etikettieren wir lieber als faul, als uns einzugestehen, daß wir nichts weiter tun, als einem falschen Menschenbild aufzusitzen und damit uns selbst und anderen Gewalt anzutun.


(Zum Weiterlesen: Arno Gruen, Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit, München 1997)